Die Romanow-Prophezeiung
Anweisungen gehalten, und diese entschlossene Zielstrebigkeit hatte sich ausgezahlt.
»Du kannst da drüben parken«, sagte Thorn.
Lord lenkte den vorderen Stoßdämpfer bis dicht an den Stamm einer riesigen Eiche. Ein leises Lüftchen raschelte im Gebüsch und wirbelte lose Blätter in die Luft.
Anders als die vereiste Grabstätte in Starodug war der baumbestandene Friedhof hier tadellos gepflegt. Jedes Grab war ordentlich gemäht und viele waren mit frischen Blumen und Kränzen geschmückt. Obwohl weder Moos noch Pilze die Grabinschriften überzogen, wiesen viele doch deutliche Spuren des Alters auf. Ein Kiespfad führte mitten durch den Friedhof und verzweigte sich zu Querpfaden, die bis in die hintersten Winkel des hügeligen Geländes reichten.
»Der Friedhof wird von unserem örtlichen Geschichtsverein gepflegt. Die Leute machen ihre Sache ausgezeichnet. Die ersten Gräber gehen bis zum Bürgerkrieg zurück.«
Thorn führte sie zum Rand der Friedhofswiese. Fünfzehn Meter entfernt wuchs eine Reihe von Paulownias, deren Zweige voller kräftig gefärbter Samenkapseln hingen.
Lord betrachtete die beiden Grabsteine, in die oben jeweils ein Kreuz eingemeißelt war:
ANNA THORN
geboren 18.06.1901 – gestorben 07.10.1922
PAUL THORN
geboren 12.08.1904 – gestorben 26.05.1925
»Das sind ja die korrekten Geburtsdaten«, bemerkte Lord. »War das nicht ein bisschen gewagt?«
»Eigentlich nicht. Es wusste ja keiner, wer sie wirklich waren.«
Auf beiden Grabsteinen stand unter den Namen derselbe Grabspruch: Wer aber bis ans Ende beharret, der wird selig.
Lord zeigte auf die Inschrift. »Eine letzte Botschaft Jussupows?«
»Mir erschienen die Worte immer passend. Nach allem, was ich hörte, waren beide ganz besondere Menschen. Wären sie weiter Zarewitsch und Großfürstin geblieben, hätte das vielleicht ihren Charakter verdorben. Aber hier waren sie einfach nur Paul und Anna.«
»Wie war Anna denn?«, fragte Akilina.
Ein Lächeln umspielte Thorns Mundwinkel. »Sie ist zu einer wunderbaren Frau herangewachsen. Als Teenager war Anastasia pummelig und arrogant. Hier aber nahm sie ab und soll eine recht schöne Frau geworden sein, genau wie ihre Mutter in jenem Alter. Sie hinkte leicht beim Gehen und trug Narben am Körper, aber ihr Gesicht war unversehrt. Es war meinem Vater wichtig, mir alles zu erzählen, was Jussupow über sie gesagt hatte.«
Thorn ging zu einer Steinbank und setzte sich. In der Ferne erklang das heisere Gekrächze von Krähen.
»Sie war die Hoffnungsträgerin, trotz der Bedenken, dass sie einem männlichen Kind die Bluterkrankheit vererben könnte. Keiner glaubte ernstlich, dass Alexej lange genug am Leben bleiben würde, um eine Frau für ihn zu finden, mit der er Kinder zeugen könnte. Es war ein Wunder, dass er es ohne schlimme Blutungen aus Jekaterinburg herausgeschafft hatte. Hier hatte er oft Anfälle. Es gab jedoch in der Stadt einen Arzt, der einen gewissen Erfolg bei ihm hatte. Alexej lernte, ihm zu vertrauen, wie er zuvor Rasputin vertraut hatte, und schließlich starb er an einer ganz normalen Grippe und nicht an seiner Bluterkrankheit. Auch darin hat Rasputin Recht behalten. Er sagte voraus, der Thronerbe werde nicht an seiner Hämophilie sterben.« Thorns Blick wanderte zu den Bergen in der Ferne. »Mein Vater war ein Jahr alt, als Alexej starb. Meine Großmutter lebte bis in die Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts. Ich habe sie kennen gelernt. Sie war eine großartige Frau.«
»Wusste sie über Alexej Bescheid?«, fragte Lord.
Thorn nickte. »Sie stammte aus einem russischen Adelshaus. Ihre Familie flüchtete bei Lenins Machtergreifung. Sie wusste alles. Alexejs körperliches Leiden war nicht zu verbergen. Sie hatten nur drei gemeinsame Jahre, aber wenn man sie reden hörte, hätte man das nie geglaubt. Sie liebte Alexej Nikolajewitsch.«
Akilina näherte sich den Grabsteinen und kniete sich ins Gras. Lord sah zu, wie sie sich bekreuzigte und ein Gebet sprach. Sie hatte ihm von ihrer Begegnung in der San Franciscoer Kirche erzählt, und jetzt merkte er, dass diese Russin gläubiger war, als sie zugeben wollte. Auch er war von dieser friedlichen Szene gerührt, deren Stille nur vom Geraschel der Eichhörnchen in den Blauglockenbäumen gestört wurde.
»Ich komme oft hierher«, erzählte Thorn. Er zeigte auf drei weitere Grabsteine, die ihnen die Rückseite zukehrten. »Mein Vater, meine Mutter und meine Großmutter liegen alle dort drüben
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