Die Romanow-Prophezeiung
über viele Jahrzehnte im Rampenlicht, weil sie bis zuletzt behauptete, die jüngste Tochter des Zaren zu sein. Später konnte jedoch anhand von DNA-Analysen nachgewiesen werden, dass sie in keiner Weise mit den Romanows verwandt gewesen war.
Außerdem verbreitete sich im Europa der Zwanzigerjahre das Gerücht, Alexandra und ihre Töchter seien nicht in Jekaterinburg ermordet, sondern vor der Erschießung Nikolaus’ und Alexejs weggeschafft worden. Es hieß, die Frauen würden in Perm – einer Provinzstadt unweit von Jekaterinburg – festgehalten. Lord erinnerte sich an ein in den USA erschienenes Buch, in dem zahlreiche Details angeführt wurden, die diese Behauptung untermauerten. Später aufgetauchte Dokumente jedoch, die den Autoren nicht zur Verfügung gestanden hatten, bewiesen – ganz abgesehen vom späteren Auffinden der sterblichen Überreste der Romanows –, dass Alexandra und mindestens drei ihrer Töchter in Jekaterinburg gestorben waren.
Das alles war äußerst verwirrend. Was entsprach der Wahrheit, was war Erfindung? Lord hielt es mit Churchill, der einmal gesagt hatte: »Russland ist ein Rätsel in einem Rätsel, das wiederum von einem Rätsel umschlossen ist.«
Aus seiner Aktentasche holte er eine weitere Kopie, die er im Moskauer Archiv gemacht hatte. Das Original war an eine handschriftliche Notiz Lenins geheftet gewesen. Er hatte dieses Dokument weder Hayes noch Semjon Paschkow gezeigt, weil er es für unwichtig erachtet hatte. Bis zu diesem Augenblick.
Es handelte sich um einen maschinengeschriebenen Auszug aus einer eidesstattlichen Erklärung, die einer der Wachposten von Jekaterinburg im Oktober 1918 – also drei Monate nach der Ermordung der Romanows – abgegeben hatte.
Der Zar war nicht mehr jung, sein Bart wurde schon grau. Tagtäglich trug er ein Soldatenhemd und einen Offiziersgürtel mit einer Schnalle um die Taille. Er hatte gütige Augen und wirkte auf mich wie ein einfacher, offener, gesprächiger Mensch. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass er sich am liebsten mit mir unterhalten hätte. Er sah aus, als wollte er mit jemandem reden. Die Zarin war kein bisschen wie er. Sie wirkte streng und überheblich. Manchmal haben wir Wachen über sie geredet und gesagt, dass sie genau so aussieht, wie man sich eine Zarin vorstellt. Sie sah älter aus als der Zar. An ihren Schläfen war ihr Haar schon grau, und ihr Gesicht war nicht mehr das einer jungen Frau. Nach einer gewissen Zeit bei der Wache schwanden meine Vorurteile, und meine Einstellung gegenüber dem Zaren und der Zarin änderte sich völlig. Sie taten mir Leid. Ich bedauerte sie als Menschen und wünschte, ihr Leiden hätte ein Ende. Aber ich bekam mit, was ihnen bevorstand. Das Gerede über ihr Schicksal war eindeutig. Jurowski sorgte schon dafür, dass wir alle wussten, worin unsere Aufgabe bestand. Nach einer Weile sagte ich mir, dass etwas getan werden müsse, um ihnen die Flucht zu ermöglichen.
Auf was war er da gestoßen? Und warum hatte niemand zuvor Vergleichbares gefunden? Dann fiel ihm wieder ein, dass die Archive erst in den letzten Jahren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden waren. Die als schutzwürdig eingestuften Papiere waren für die meisten Forscher noch immer tabu, und allein schon das Chaos in der russischen Art der Archivierung ließ solche Funde zur reinen Glückssache werden.
Er musste nach Moskau zurück, um Taylor Hayes davon zu berichten. Es war möglich, dass Stefan Baklanows Anspruch in Frage gestellt werden konnte. Womöglich gab es irgendwo noch einen Thronanwärter, der Nikolaus II. im Verwandtschaftsgrad näher stand als Baklanow. Sensationsjournalisten und Autoren populärer Machwerke verbreiteten ja schon lange die These von der Existenz eines solchen Thronanwärters. Ein Filmstudio hatte sogar einen Zeichentrickfilm über Anastasia produziert, der Millionen von Kindern glauben ließ, die Zarentochter sei noch am Leben. Aber wie bei Elvis und Jimmy Hoffa beruhte das alles auf Spekulation, und Beweise fehlten.
Oder gab es doch welche?
Hayes legte den Hörer auf und versuchte, seine Wut zu zügeln. Er war nicht nur aus geschäftlichen Gründen zum Landgut Grüne Lichtung hinausgefahren, sondern auch mit der Absicht, sich ein wenig zu entspannen. Für Lord hatte er im Hotel eine Nachricht hinterlassen mit dem Inhalt, er habe anderweitig zu tun, und Lord solle derweil seine Arbeit in den Archiven fortsetzen, bis er, Hayes, sich im Verlauf des Nachmittags mit ihm in
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