Die Romanow-Prophezeiung
in New York City – im Madison Square Garden – war sie bereits aufgetreten. Da blieb wenig Zeit für Männer, abgesehen von einem gelegentlichen Essen oder einem Gespräch während einer langen Flug- oder Bahnreise.
Sie war neunundzwanzig und fragte sich, ob sie wohl je heiraten würde. Ihr Vater hatte immer gehofft, dass sie einmal dem Zirkus den Rücken kehren und ein bürgerliches Familienleben führen würde. Sie aber hatte mit ansehen müssen, was nach der Hochzeit aus ihren Freundinnen geworden war. Den ganzen Tag lang schufteten sie in einer Fabrik oder einem Laden, und wenn sie dann endlich nach Hause kamen, wartete schon der Haushalt auf sie – und das tagein, tagaus. Chancengleichheit zwischen Mann und Frau hatte es nie gegeben, obwohl die Sowjets behauptet hatten, die kommunistischen Frauen seien die freiesten auf der ganzen Welt. Zudem bot auch die Ehe wenig Trost. Ehemänner und Ehefrauen arbeiteten meist zu unterschiedlichen Zeiten, und selbst Urlaub machten sie oft getrennt, weil sie nur selten gleichzeitig frei bekamen. Dass unter diesen Umständen jede dritte Ehe geschieden wurde, fand Akilina nicht weiter erstaunlich. Auch nicht, dass die meisten Paare nur ein einziges Kind haben wollten. Für ein zweites oder gar drittes hatten sie weder die Zeit noch das Geld. Ein solches Leben war für sie nie in Frage gekommen. Wie ihre Großmutter zu sagen pflegte: Man kennt einen Menschen erst, wenn man ein Pud Salz mit ihm gegessen hat.
Sie nahm ihren Platz vor dem Spiegel ein und spritzte sich Wasser ins Haar, um es zu einem Knoten zu binden. Sie trug nur wenig Make-up auf der Bühne – gerade genug, um im harten, bläulich weißen Scheinwerferlicht nicht ganz so bleich zu wirken. Die helle Haut, das blonde Haar und die blauen Augen hatte sie von ihrer slawischen Mutter geerbt, das Talent hingegen von ihrem Vater. Er hatte jahrzehntelang als Trapezkünstler im Zirkus gearbeitet. Zu ihrer aller Glück hatte sein Talent ihnen eine größere Wohnung, umfangreichere Lebensmittelrationen und bessere Kleidung verschafft. Die Kunst war immer ein bedeutendes Element der kommunistischen Propaganda gewesen und der Zirkus, ebenso wie Ballett und Oper, über Jahrzehnte ein gefragter Exportartikel – es war ein Versuch, der Welt zu zeigen, dass Hollywood keineswegs das Monopol auf Unterhaltung besaß.
Mittlerweile war die gesamte Truppe zu einem rein kommerziellen Unternehmen geworden. Der Staatszirkus gehörte inzwischen einer Moskauer Firma, die das Spektakel weiterhin weltweit vermarktete – mit dem Unterschied, dass nun nicht mehr Propaganda, sondern Profit das Ziel war. So verdiente Akilina für postsowjetische Verhältnisse gar nicht schlecht. Wenn sie aber irgendwann nicht mehr in der Lage war, auf dem Trapez das Publikum zu fesseln, würde sie sich mit größter Wahrscheinlichkeit sehr bald ins Millionenheer der Arbeitslosen einreihen müssen. Aus diesem Grund hielt sie sich bestens in Form und achtete auf ihre Ernährung und auf ausreichend Schlaf. Die letzte Nacht war die erste seit längerer Zeit gewesen, in der sie weniger als acht Stunden geschlafen hatte.
Wieder musste sie an Miles Lord denken.
Vorhin in ihrer Wohnung hatte sie seine Aktentasche geöffnet. Sie erinnerte sich, dass er ein paar Papiere herausgenommen hatte, hoffte aber dennoch, etwas zu finden, das ihr mehr über diesen faszinierenden Mann erzählen würde. Doch dann hatte sie nur einen leeren Schreibblock, drei Kugelschreiber, ein paar Karten vom Hotel Wolchow und ein Aeroflot-Ticket vom Vortag für einen Flug von Moskau nach St. Petersburg gefunden.
Miles Lord. Amerikanischer Anwalt in der Zaristenkommission.
Vielleicht würde sie ihn Wiedersehen.
Lord saß geduldig die erste Hälfte der Vorstellung ab. Kein Polizist – jedenfalls kein uniformierter – war ihm in den Zirkus gefolgt, und er hoffte, dass auch keiner in Zivil nach ihm Ausschau hielt. Die Arena war recht eindrucksvoll – ein überdachtes Amphitheater, das sich im Halbkreis um eine farbenprächtige Bühne zog. Mehrere tausend Menschen, darunter viele Touristen und Kinder, saßen dicht gedrängt auf den roten Polsterbänken und folgten gebannt den Darbietungen der Artisten. Lord kam die Szenerie schon fast surreal vor, und die Trampolinspringer, die dressierten Hunde, die Trapezkünstler, Clowns und Jongleure lenkten ihn eine Zeit lang von seiner prekären Lage ab.
Er beschloss, während der Pause auf seinem Platz zu bleiben. Je weniger er sich bewegte,
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