Die Romanow-Prophezeiung
desto besser. Er saß nur wenige Reihen von der Bühne entfernt und war von dort aus so gut zu sehen, dass er hoffte, Akilina Petrowa aufzufallen, wenn sie zu ihrem Auftritt erschien.
Eine Glocke erklang und jemand verkündete, der zweite Teil werde in fünf Minuten beginnen. Lord ließ den Blick noch einmal über die Sitzreihen schweifen.
Dann erkannte er ein Gesicht.
Der Mann saß auf der gegenüberliegenden Seite. Er trug eine dunkle Lederjacke und Jeans statt des ausgebeulten, beigefarbenen Anzugs, aber es war eindeutig derselbe Kerl, den Lord am Vortag im St. Petersburger Archiv und in der vergangenen Nacht im Zug gesehen hatte. Er saß inmitten einer Gruppe von Touristen, die schnell noch ein paar Fotos schossen, bevor die Pause zu Ende ging.
Lords Herz pochte. Plötzlich war ihm flau im Magen.
Dann erblickte er Hängelid.
Der Dreckskerl kam zwischen Lord und Lords anderem Problem den Mittelgang hinunter. Sein öliges, dunkel glänzendes Haar war wie immer zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Er trug einen gelbbraunen Sweater und eine dunkle Hose.
Als die Scheinwerfer angingen und die Musik den zweiten Teil einleitete, erhob sich Lord, um zu gehen. Doch oben, am Ende des Mittelganges, kaum fünfzehn Meter von ihm entfernt, stand Cro-Magnon, ein Lächeln im pockennarbigen Gesicht.
Lord setzte sich wieder. Er konnte nirgendwo hin.
Der erste Akt nach der Pause war der Auftritt von Akilina Petrowa, die in einem blauen, mit Pailletten besetzten Trikot barfuß auf die Bühne sprang. Im lebhaften Rhythmus der Musik stieg sie rasch auf den Schwebebalken und begann unter Beifall ihre Nummer.
Panik überfiel Lord. Mit einem Blick nach hinten sah er, dass Cro-Magnon noch immer oben vor dem Ausgang stand, und nicht weit davon entfernt erblickte er dann auch noch das Bluthundgesicht Hängelids, der nun etwa auf halber Höhe saß. In seinen pechschwarzen Augen – Zigeuneraugen, wie ihm schien – lag ein Blick, der signalisierte, dass die Jagd zu Ende war. Die rechte Hand des Kerls steckte in seiner Jacke, die gerade so weit zurückgeschlagen war, dass der Griff einer Pistole sichtbar wurde.
Lord wandte sich wieder der Bühne zu.
Akilina Petrowa tanzte mit traumwandlerischer Sicherheit über den Schwebebalken. Die Musik wurde leiser, und Akilina bewegte sich elegant in ihrem sanften Rhythmus. Lord durchbohrte sie mit seinem Blick, als wolle er sie zwingen, zu ihm hinzuschauen.
Und das tat sie dann auch.
Einen Augenblick lang trafen sich ihre Augen, und er merkte, dass sie ihn erkannt hatte. Dann sah er in ihrer Miene noch etwas anderes. War es Angst? Hatte auch sie die Männer hinter ihm entdeckt? Oder sah sie das Entsetzen in seinem eigenen Blick? Falls ja, dann ließ sie es sich nicht anmerken. Weiterhin voll konzentriert, beeindruckte sie das Publikum mit ihrem langsamen, athletischen Tanz über den zehn Zentimeter breiten Eichenbalken.
Sie drehte, nur auf einen Arm gestützt, eine Pirouette und sprang vom Schwebebalken. Die Menge applaudierte, und gleich darauf rollten Clowns mit winzigen Fahrrädern auf die Bühne. Während Helfer den schweren Schwebebalken hinaustrugen, entschied Lord, dass ihm keine Wahl blieb. Er sprang von seinem Sitz und machte einen Satz auf die Bühne, als gerade einer der Clowns hupend vorbeifuhr. Die Menge brüllte vor Lachen, weil sie glaubte, das gehöre zur Vorstellung. Ein Blick nach links verriet Lord, dass sowohl Hängelid als auch der Mann aus St. Petersburg aufgestanden waren. Er verschwand hinter dem Vorhang und stieß fast mit Akilina Petrowa zusammen.
»Ich muss hier raus«, erklärte er ihr auf Russisch.
Sie packte ihn bei der Hand und zog ihn weiter nach hinten, vorbei an zwei Käfigen mit weißen Pudeln.
»Ich habe die Kerle gesehen. Sie scheinen immer noch in Schwierigkeiten zu stecken, Mr. Lord.«
»Wem sagen Sie das.«
Sie kamen an weiteren Artisten vorbei, die sich auf ihren Auftritt vorbereiteten. Niemand schien sie zu beachten. »Ich muss mich irgendwo verstecken«, sagte er. »Wir können ja nicht immer weiterrennen.«
Zielstrebig führte sie ihn durch einen Flur, an dessen schmutzigen Wänden alte Plakate hingen. In der Luft hing ein säuerlicher Geruch nach Urin und feuchtem Pelz. Zu beiden Seiten des schmalen Korridors zweigten Türen ab.
Sie öffnete eine der Türen. »Hier rein.«
Es war eine Abstellkammer, in der Mopps und Besen standen, aber er bot Lord genügend Platz, sich hineinzuquetschen.
»Bleiben Sie hier, bis ich wiederkomme«,
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