Die Rose des Propheten 3 - Das Buch der Unsterblichen
schwindende Sinne dafür verantwortlich, daß der Unsterbliche wie eine Luftspiegelung erschien. »Ich wage nicht, noch länger zu warten.«
Der Gott widmete seine Aufmerksamkeit seinem sterbenden Priester. Er glitt über den schwarzen Marmorboden, seine Seidenpantoffeln machten kein Geräusch, seine seidenen Gewänder leuchteten kalt und grellweiß in der Dunkelheit, als er sich neben Feisals Lager aufstellte.
Unfähig sich zu bewegen, blickte der Imam mit einer Verehrung ins Antlitz des Gotts empor, die allen Schmerz und jedes Fieber aus seinem Leib vertrieb. Der Imam sah, wie seine Seele aufstand, die zerbrechliche Hülle ihres Fleischs zurückließ und mit den Händen nach dem Gott griff wie ein Kind nach der Mutter. Zufrieden, glückselig spürte Feisal, wie ihm das Leben schwand. Der Name des Gotts war ihm auf den Lippen, er wollte ihn mit seinem letzten Atemzug aushauchen.
»Nein!« sagte Quar plötzlich, und die Seele des Imams, die nun zwischen zwei Ebenen hing, wich verwirrt zurück. Der Gott kniete neben Feisal nieder und riß den blutbefleckten Verband ab, um seine Hand auf die Wunde zu legen. Mit der anderen Hand berührte er die heiße Stirn des Priesters. »Du sollst leben, mein treuer Imam. Du wirst dich von deinem Lager des Schmerzes und des Leids erheben und wissen, daß ich es war, der dich errettete. Du wirst dich meines Gesichts erinnern, meiner Stimme und der Berührung meiner Hand auf deinem sterblichen Fleisch. Und die Lehre, die du aus der Qual, welche du durchgemacht hast, ziehen wirst, ist folgende: Du hast das menschliche Leben zu hoch erachtet. Wie du gesehen hast, handelt es sich dabei um ein Gut, das uns ebenso leicht genommen werden kann wie man einen blinden Mann berauben kann. Nur die Seelen der Menschen muß man davor bewahren, in der Finsternis umherzuirren. Wer nicht an mich glaubt, muß sterben, damit die Macht ihrer falschen Götter mit ihnen stirbt.«
Feisal tat einen tiefen Atemzug. Seine Augen schlossen sich in friedvollem Schlaf. Seine Seele kehrte zögernd in den zerbrechlichen Leib zurück.
»Wenn du erwachst«, fuhr Quar fort, »wirst du den Emir aufsuchen und ihm sagen, daß es Zeit ist…«
»Zeit?« murmelte Feisal.
»Für den Dschihad!« flüsterte Quar und beugte sich dicht über seinen Priester, glättete ihm das schwarze Haar mit der Hand. »Bekehrung oder Tod!«
Das zweite Buch Zhakrin
1
»Im Namen von Zhakrin, dem Gott der Dunkelheit und allem, das Böse ist, ich befehle dir, erwache!«
Mathew hörte die Stimme, als käme sie von weither. Es war früh am Morgen in seinem Heimatland. Die Sonne schien hell, fröhliches Vogelgezwitscher begrüßte den neuen Tag. Eine mit Düften schwer beladene Frühlingsbrise wehte steif und kalt gegen sein Fenster. Seine Mutter stand am Absatz der hohen Steintreppe, rief ihren Sohn, zu kommen, und sein Fasten zu unterbrechen…
»Erwache!«
Er war in einem Klassenzimmer nach dem Mittagessen. Der hölzerne Tisch, in den zahllose Namen und Gesichter eingraviert waren, fühlte sich unter seinen trägen Händen kühl und glatt an. Der alte Erzmagus hatte schon eine Ewigkeit vor sich hin geredet. Seine Stimme war wie das Summen von Fliegen. Mathew schloß die Augen, nur für einen Augenblick, solange der Lehrer ihm den Rücken zukehrte…
»Erwache!«
Ein schmerzvolles Prickeln breitete sich in Mathews Körper aus. Er versuchte seine Gliedmaßen zu bewegen. Doch wurde es dadurch nur noch schlimmer, stachen ihm kleine Nadeln der Qual durch den Körper. Er stöhnte.
»Wehre dich nicht, Blumenblüte. Bleibe etwa eine Stunde still liegen, dann geht das Gefühl vorbei.«
Etwas Kaltes strich über seine Stirn. Die kalte Berührung und die noch kältere Stimme brachte grauenerregende Erinnerungen zurück. Er zwang sich, die Augen zu öffnen, und Mathew blickte zu einer schlanken Hand hinauf, in ein schwarzmaskiertes Gesicht, in zwei grausame und hohle Augen.
»Still liegenbleiben, Blumenblüte. Das Herz klopft schnell, das träge Blut strömt und brennt dir durch den Leib, die Lungen saugen Luft an. Schmerzhaft? Ja. Aber du hast ja auch lange geschlafen, Blumenblüte. Sehr, sehr lange.«
Schlanke Finger strichen über seine Wange.
»Hast du noch meinen Fisch, Blumenblüte? Ja, natürlich hast du ihn. Die Stadtwachen durchsuchen schließlich nicht die Leiber der Toten, nicht wahr, meine Blumenblüte?«
Mathew spürte die Kristallkugel, die in den Falten des Frauengewands verborgen war, das er trug. Die Kugel war mit
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