Die Rose des Propheten 6 - Das Buch Promenthas
sich mit der Zunge über die ausgetrockneten Lippen. »Zohra«, murmelte er. Als würde er der von Flüssigkeit strotzenden Leiber gewahr, kam der Nebel auf ihn zugejagt. »Zohra!« wiederholte er und schloß unwillkürlich die Augen, denn der Anblick war ihm unerträglich. Er hörte, wie auch der alte Mann Zohras Namen murmelte, und erinnerte sich mit einem Schrecken, wie der Bettler ihm diesen Namen als Lohn für das Öffnen der Mauer abverlangt hatte. Neben ihm flüsterte Achmed den Namen seiner Mutter mit einem Schluchzen in der Kehle.
Eine Kälte wie in einer Höhle packte den Fuß des Nomaden und ließ ihm das Mark in den Knochen gefrieren. Der Schmerz war heftig, und Khardan konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken. Fieberhaft wiederholte er immer und immer wieder den Namen, und dabei entstand ein Abbild Zohras vor seinem geistigen Auge. Er sah, wie sie ihr Pferd durch die Wüste ritt, wie der Wind ihr das Kopftuch fortriß und wie das schwarze Haar hinter ihr her wehte – ein stolzes, triumphierendes Banner. Er sah sie auf ihrem Brautlager, das Messer in den Händen, Triumph in den glitzernden Augen, und er spürte die Berührung ihrer Finger, leicht und zart, wie sie die Wunde in seinem Fleisch heilte, die sie ihm selbst zugefügt hatte.
»Der Nebel zieht vorbei«, sagte der Bettler mit schwerem Seufzen.
Khardan öffnete die Augen, blickte um sich und sah, wie der Nebel sich zurückzog. Eine unheilvolle Stille legte sich über die Stadt.
»Dein Volk ist in Sicherheit, Mann, der nach Pferd und Tod riecht«, sagte der Bettler. »Sie sind durch das Tor geschritten und befinden sich draußen auf der Ebene. Und es ist niemand mehr am Leben, der sie verfolgen könnte.«
Trotz aller Dankbarkeit erschauerte der Kalif. Der Nachtwind begann zu wehen, und mit einem Schreck sah er eine Wolke, die sich hoch in den Nachthimmel hob. Es war kein Nebel. Es war eine Staubwolke – aus schrecklichem, öligem Staub. Zitternd stand Khardan auf und sah wieder zu dem Bettler hinunter.
»Ich muß zu ihnen. Wird das gehen?«
»Wenn sie erst einmal begriffen haben, daß sie frei sind, wird sich der Zauber auflösen.«
Khardan wandte sich an Achmed. »Kommst du mit mir, Bruder? Kommst du mit nach Hause?«
»Dies hier ist mein Zuhause«, sagte Achmed. »Alles, was ich liebe, ist hier.«
Khardan blickte, als würde er von dem einsamen Licht im Palast angezogen. Er konnte den Umriß eines Manns erkennen, der am Fenster stand und… ja wohin blickte? Auf sie hinab? Aus seiner heimgesuchten Stadt hinaus?
»Du weißt, daß das Krieg bedeutet«, fuhr Achmed fort, der Khardans Blick folgte. »Der Emir kann dir das nicht ungestraft durchgehen lassen.«
»Ja«, erwiderte Khardan zerstreut, sein Geist war viel zu sehr mit der Gegenwart beschäftigt, um sich auch mit der Zukunft zu befassen. »Ich nehme es an.«
»Dann werden wir uns auf dem Schlachtfeld wiedersehen. Lebewohl, Kalif.« Achmeds Stimme war kalt und förmlich. Er drehte sich um, und machte Anstalten, durch die Maueröffnung zu treten.
»Lebe wohl, Bruder. Möge Akhran mit dir sein«, sagte Khardan ruhig. »Ich werde deiner Mutter Nachricht von dir geben.«
Der gepanzerte Rücken versteifte sich, der Körper zuckte. Einen kurzen Augenblick lang blieb Achmed stehen. Dann richtete er die Schultern und trat wortlos durch die Mauer. Hinter ihm schloß sich wieder die Steintür.
»Du solltest dich besser beeilen, Nomade«, riet der Bettler. »Die Soldatenpriester sind zwar tot, aber in dieser Stadt sind noch viele am Leben, die deinen Kopf fordern werden.«
»Zuerst möchte ich dich fragen, wer du bist, Vater«, sagte Khardan und blickte den alten Mann eindringlich an.
»Ein bescheidener Bettler, sonst nichts!« Der alte Mann kauerte sich auf einer zerlumpten Decke zusammen wie ein Straßenhund. »Und jetzt geh, Nomade!«
Der Bettler schloß die Augen, und schon begann er zu schnarchen.
Nachdem seine Furcht, auf Menschen zu treffen, verschwunden war, merkte Khardan, wie ihn eine gewaltige Müdigkeit überkam. Seine Schulter brannte vor Schmerz, sein Arm hatte sich versteift und war nicht mehr zu gebrauchen. Jede Bewegung bereitete ihm Mühe, und als er sich durch die mondbeschienenen Straßen schleppte, hielt er die Hand über den Mund, um den gräßlichen Staub nicht einzuatmen, der ihm in den Augen stach. Die Stadt Kich machte den Eindruck, als sei sie das Opfer eines marodierenden Heeres geworden – eine Armee, die Holz und Wasser und Pflanze und Mensch
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