Die Rose von Angelâme (German Edition)
die sich Le Chapeau nennt. Dort werdet Ihr erwartet.“
Pierre schob den Jungen zur vorderen Eingangstür hinaus, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Straße sicher für ihn war. Er sah ihm nach, bis er zwischen den Häusern verschwand.
Als die Männer zurückkamen, bedauerte Pierre überzeugend, dass sie den Dieb nicht erwischt hatten, und schimpfte über die verdorbene Moral der Jugend, die doch zum Himmel schreie. Trotzdem durchsuchten die Männer sein Haus und das einiger Nachbarn, aber ohne Erfolg. Sie sagten kein Sterbenswörtchen davon, dass der Gesuchte keinesfalls ein Dieb, sondern aus ganz anderen Gründen von Interesse für des Königs Kanzler war, auf dessen Befehl sie einige Leute in den großen Städten observiert hatten. Allerdings auch dort bislang erfolglos.
Pierre traf zusammen mit einer Gruppe Reisender in Louviers ein. Aus ihrer Bekleidung und Sprache schloss er, dass sie wohl von England herübergekommen waren, und sich in der Taverne Le Chapeau einmieten wollten. Einer der Männer aus dieser Gruppe kam kurz darauf neben Pierre zu sitzen, als der auf sein Essen wartete, und schob ihm unauffällig einen Gegenstand zu, dessen Sinn Pierre sofort erkannte: es war ein rosenfarbiges Kreuz mit stilisierten Blütenblättern am Ende jeden Balkens, welches an einer dünnen goldenen Kette hing.
Pierre neigte den Kopf in der Art derer, die das eingebrannte Kreuzeszeichen trugen, zum Zeichen dafür, dass er verstanden hatte, und der Mann schob das Schmuckstück wieder in eine Tasche seines samtenen Wamses. Dann überließ er ihm heimlich ein Schriftstück, das Pierre aufmerksam las, nachdem er in sein Haus in Rouen zurückgekehrt und sicher war, dass niemand ihn dabei beobachtete.
Zwei Tage später verließ Pierre die Stadt und erreichte über mehrere Umwege schließlich Paris, wo er unweit der Rue St. Jacques ein Quartier nehmen sollte. Er hatte dort vor Jahren schon einmal gewohnt, als er noch der Adlatus des Königs gewesen war.
Paris, 12. Mai im Jahre des Herrn 1310
Vierundfünfzig Brüder des Templerordens wurden in einem Autodafé bei lebendigem Leibe verbrannt, da sie gewagt hatten, im Februar dieses Jahres ihre im Jahre 1307 vor der königlichen Kommission gemachten Aussagen gegen ihren Orden zu widerrufen. Angeordnet hatte diese grausame Strafe, die beim Volk auf sprachloses Entsetzen stieß, der Erzbischof von Sens, Philipp de Martigny, der Bruder des königlichen Ministers Enguerrand de Martigny.
Pierre hatte seinen Auftrag, sich zwei Tage zuvor Zugang zu einem der Gefängnisse zu verschaffen, nicht erfüllen können, da diese für niemanden mehr zugänglich waren, seitdem der Erzbischof überraschend die Verbrennung angeordnet hatte. So stand er denn hilflos in der Reihe der Menschen, die schweigend den Weg der Männer säumten, die in den weißen Hemden der Ketzer und mit ihren Spotthüten auf dem Kopf zum Richtplatz außerhalb der Stadtmauern geführt wurden, wo man die vierundfünfzig Holzstöße in sauberen Reihen aufgeschichtet hatte.
Erleichtert stellte er fest, dass unter den Männern, die schwer vom Leben hinter den Gefängnismauern und von der Folter gezeichnet waren, jedoch so aufrecht und stolz wie irgend möglich ihrem Schicksal entgegensahen, keiner war, den er gekannt hatte. Er hatte befürchtet, SaintMartin unter ihnen zu entdecken, den er während seines vereitelten Besuchs im Gefängnis zu treffen gehofft hatte.
So zog er sich vorsichtig zurück, als die ersten Flammen aus den Holzstößen schlugen, und die Schreie der Männer, die die Qualen nicht ertragen konnten, durch die Luft gellten. Es gab keinen Henker, der ihnen gnädig erspart hätte, bei lebendigem Leibe geröstet zu werden.
Pierre stand mit einem Mal wieder jene Verbrennung vor Augen, die er nicht hatte verhindern können, weil ein grausamer Plan erfüllt werden sollte. Das Gesicht der armen Rose tauchte vor seinem inneren Auge auf, verklärt und wunderschön ohne die hässlichen Narben und Geschwüre, die es zum Schluss bedeckt, und umrahmt von den herrlichen, rotblonden Locken, die er so bewundert hatte, als er sie nach der Befreiung aus ihrer ersten Haft nach Italien brachte.
„Oh Gott!“, rief er verzweifelt. „Warum lässt du das alles zu? Was haben dir diese Menschen angetan, dass du sie solches erleiden lässt? Warum verschonst du die, die solche Dinge tun?“ Er hatte sich Tränen überströmt in eine vor den Stadtmauern gelegene Wiese geworfen und wie ein Verrückter auf den weichen
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