Die Rose von Angelâme (German Edition)
sie wie in Zeitlupe zusammensank. Die Frauen, die in ihrer unmittelbaren Nähe gestanden hatten, fuhren entsetzt auseinander, zerrten ihre Kinder hinter sich her und suchten schreiend Deckung zwischen den Verkaufstischen. Völlig verstört spähten sie zu ihr hinüber.
Christina stand gerade an einem kleinen Stand mit Kinderspielsachen, als sie den Knall hörte. Hatte geklungen wie ein zerplatzter Luftballon. Jetzt sah sie, dass Sarah reglos vor der Hauswand am Boden lag. Überall um sie herum Blutspritzer, und an der Wand ein roter Streifen, der wie ein Finger auf ihre am Boden liegende Freundin zeigte.
Mit ein paar Sätzen war sie bei ihr, richtete sie auf.
„Einen Arzt!“, schrie sie den anderen Frauen zu, die wie gelähmt in ihren Verstecken kauerten und ihre Kinder eng an sich geklammert hielten. „Los doch! Einen Arzt! Sie ist verletzt.“
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich einige Frauen aus ihrer Erstarrung lösten und nach ihren Handys griffen.
„Sarah!“ Sie strich der Freundin über die Stirn. „Sarah, bitte, komm zu dir! Komm zu dir, Liebes! Bitte komm zu dir!“
Dann entdeckte sie das kleine Loch unterhalb ihrer linken Brust. Aus einem größeren Loch in ihrem Rücken sickerte unablässig Blut, bildete eine rote Lache auf dem gepflasterten Boden. Auf Sarahs Lippen stand rosaroter Schaum, ihr Gesicht war aschfahl geworden.
„Großer Gott!“, flüsterte Christina tonlos. „Großer Gott! Sarah! Stirb nicht, bitte stirb nicht!“
Sarah starrte mit erstaunt aufgerissenen Augen ins Leere, als versuche sie zu verstehen, was passiert war.
„Sarah! Liebes! Sarah!“
Christina fuhr aus ihren Kissen auf.
Marie Rose!
Schweißgebadet saß sie da und schaute zu dem Bettchen hinüber, in dem die Kleine lag und selig schlief. Tränen liefen Christina übers Gesicht. Sie hatte im Schlaf geweint. Hatte geträumt. Diesen furchtbaren Traum, der sie wieder und wieder heimsuchte, und der sie auch dieses Mal daran hindern würde, erneut einzuschlafen. Es war, als versuche ihr Unterbewusstsein Details nach oben zu spülen, die ihr entgangen waren, und die das große Rätsel hinter diesem sinnlosen Tod lösen könnten: warum Sarah?
Mit einer müden Geste schlug sie die Decke zurück, setzte sich auf die Bettkante und schlüpfte in ihre Pantoffeln. Sie fröstelte plötzlich.
Leise schlich sie aus dem Schlafzimmer, nachdem sie einen liebevollen Blick auf das Kind geworfen hatte. Gleich darauf knipste Christina das Licht auf ihrem Schreibtisch im Arbeitszimmer an und holte eine Mappe aus der Schublade. Gedankenverloren sah sie sich die Bilder darin an. Fotos von Sarah, Roger und Marie Rose. Menschen, die wie eine Familie für sie gewesen waren. Weinend ließ sie den Kopf auf die Tischplatte sinken.
Simon saß über seinen Unterlagen und kaute dabei an seinem Stift. Er konnte und konnte keinen Sinn hinter dem allem finden.
Das Blatt Papier, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag, war voller Kreise und Vierecke, die er miteinander verbunden hatte. Namen standen in den Kreisen, Ziffern in den Vierecken. Er knüllte das Papier zusammen und warf es zu den anderen in den Papierkorb. Seit Tagen drehten sich seine Gedanken fast ausschließlich um diesen Fall, ohne dass sich auch nur andeutungsweise eine Lösung abzeichnete.
Simon lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. Linda saß ihm gegenüber und hatte zwei dicke, steile Falten auf der Stirn.
„Das ist ein Fall für die Kripo, nicht für Sie“, knurrte sie verstimmt.
„Und? Hat die Kripo was rausgefunden?“
„Nein. Aber das ist nicht Ihr Problem.“
„Weiß ich.“
„Warum arbeiten Sie dann immer noch dran? Doch nicht wegen diesem … diesem …“
„Er heißt Daniel Savarini.“
Linda brummte vor sich hin, bevor sie etwas auf ihren Block kritzelte.
„Also gut, noch einmal“, sagte sie schließlich. „Zuerst der Ehemann, dann seine Frau.“
Simon nahm nachdenklich ein neues Blatt zur Hand und kritzelte erneut Figuren darauf.
„Roger war in der Softwarebranche beschäftigt“, fuhr er fort. „Ehemann und künftiger Familienvater ohne irgendwelche Auffälligkeiten. Nirgends ein Grund, ihn umzubringen. Oder doch? Was wurde übersehen?“ Er lauschte dem Tonfall dieses einen Wortes nach: umzubringen. Simon war nicht weit davon entfernt allen Ernstes zu glauben, dass es sich in beiden Fällen um vorsätzlichen Mord handelte, konnte aber nicht sagen, warum.
„Sarah.“ Er malte einen Kreis auf das Papier und schrieb ihren Namen hinein.
Weitere Kostenlose Bücher