Die Rose von Angelâme (German Edition)
Park ständig für neue Perspektiven, die einem angestrengt arbeitenden Geist hin und wieder die notwendige Abwechslung boten. Das hatte ihr Vater oft genug erwähnt, und niemand konnte ihn besser verstehen als sie.
Marie liebte diesen Raum seit ihrer Kindheit. Zuerst hatte sie hier mithilfe ihres Vaters schreiben und lesen gelernt, und später, nach dem Tod ihrer Mutter, hatte sie sich immer wieder dorthin zurückgezogen, um wenigstens die Nähe ihres Vaters zu spüren. Wie oft hatte Marie dort auf der Fensterbank in einem von seinen Büchern gelesen, an einem Tuch gestickt oder einfach nur vor sich hin geträumt. Wie sehr hatte sie diese Stunden geliebt, weil sie ihr so unglaublich viel Geborgenheit vermittelten wie nichts sonst auf der Welt.
Wenn er gerade nicht da war, kletterte sie auf seinen lederbezogenen Sessel und schaute die Gemälde an, die ringsum die Wände dekorierten. An deren Rahmen hatte der Vater irgendwann einmal kleine Messingschilder anbringen lassen, in die der Name des jeweils Porträtierten samt dessen Geburts-und Todesjahr eingraviert war. Mit deren Hilfe lernte Marie die Ahnen bis weit zurück in der Geschichte ihrer Familie kennen - sofern solche Hinweise nicht bereits vom jeweiligen Maler in Schönschrift irgendwo auf dem Bild festgehalten worden waren.
Eines dieser alten Gemälde hatte sie schon immer fasziniert. Es zeigte einen stolzen jungen Mann, den Marie als kleines Mädchen in ihren Fantasien heimlich zu ihrem Traumprinzen gemacht hatte: Albert Sebastien Romuald Comte von Angelâme. Als ihr Vater eines Tages dahinter kam, dass seine Tochter in ein altes Ahnengemälde verliebt war, hatte er gelacht und gesagt, dieser Herr sei vor mehr als fünfhundert Jahren gestorben, sie möge sich doch bitte einen etwas lebendigeren Liebsten suchen.
Marie lächelte, als ihr das jetzt wieder in den Sinn kam, und zwinkerte dem charmanten jungen Mann auf dem Porträt ihr gegenüber zu. Der blickte weiterhin stolz in die Welt, haarscharf am Kopf des Betrachters vorbei, aus welcher Position heraus auch immer man ihn ansah. Der Vater hatte ihr erklärt, dass es sich hierbei um eine künstlerische Besonderheit, einen kleinen Trick handele. Etwas, das zur Zeit der Entstehung dieses Bildes kaum jemand beherrschte. Unwillkürlich wandte Marie sich um, dem gemalten Blick folgend. Sie stellte überrascht fest, dass jener aus ihrer Position heraus genau auf das Gemälde einer Landschaft hinter ihr fiel, deren Mittelpunkt jene alte Burg war, auf deren Ruine später das Schloss der Angelâmes erbaut wurde. Genauer gesagt: exakt in seine linke untere Ecke.
Sie stand auf und strich mit den Fingern über die etwas rissige Oberfläche des Bildes. Es war vermutlich zur selben Zeit entstanden, als auch der junge Mann auf der gegenüberliegenden Wandseite sein Porträt in Auftrag gegeben hatte. Möglicherweise hatte er die alte Burg so gekannt, wie sie auf dem Bild zu sehen war, und sie stolz für die Nachwelt malen lassen. Maries Vater hatte sich nicht die Mühe gemacht, ein entsprechendes Hinweisschildchen an den Rahmen seiner Landschaftsbilder anbringen zu lassen, da die meisten ohnehin von den Malern mit Jahreszahlen versehen worden waren. Nur auf diesem hier war nichts dergleichen zu finden.
Marie wusste aus den Erzählungen ihres Vaters und Aufzeichnungen in den alten Familienchroniken, die er wie einen Schatz gehütet hatte, dass die alte Burg der Angelâmes einst einem Brand zum Opfer gefallen und von einer nachfolgenden Generation in Form eines zunächst bescheidenen Schlosses wieder aufgebaut worden war. Allerdings erinnerte sie sich nicht mehr daran, wann die alte Burg abbrannte und aus welchem Grund.
Weitere Generationen hatten später ihren finanziellen Verhältnissen und der Begabung ihrer Architekten entsprechende An-und Umbauten vornehmen lassen, bis das Schloss im aktuellen Zustand und als ausgesprochen beeindruckend zu bezeichnen war.
Marie betrachtete das Bild lange, wobei sie irritiert feststellte, dass der Maler sich unmöglich an die vorhandenen landschaftlichen Besonderheiten gehalten haben konnte, die seit damals unverändert geblieben waren. Bis ihr einfiel, dass früher weniger Wert auf die genaue Darstellung von Entfernungen, Perspektiven und Relationen gelegt wurde als in späteren Zeiten. Die Maler der damaligen Zeit versuchten möglichst vieles, was ihren Auftraggebern wichtig war, auf dem begrenzten Raum unterzubringen, der ihnen zur Verfügung stand.
Es dauerte auch eine Zeit
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