Die Rose von Angelâme (German Edition)
lang, bis sie herausfand, von welcher Seite aus die Burg gemalt worden war. Von deren ursprünglichen Mauern standen bestenfalls noch die Fundamente und einige unbedeutende Bruchstücke.
Außerdem hatte der Maler alle Gebäude in der mittelbaren Umgebung einschließlich des kleinen Weilers von Angelâme weggelassen, die damals auf jeden Fall schon existiert haben mussten. Andererseits hatte er sogar Details wie Blumen, Tiere und in Stein gemeißelte Ornamente deutlich hervorgehoben.
Auf dem Gelände um die Burg verteilt standen und gingen Männer und Frauen in den Kleidern einer längst vergangenen Epoche. Allein, zu zweit oder in kleinen Gruppen. Manche von ihnen arbeiteten auf den angrenzenden Feldern, andere winkten einem Fuhrmann zu, der mit seinem Ochsengespann des Weges kam. Eine Gruppe Frauen ging, mit Körben bepackt, einem unsichtbaren Ziel entgegen. Kinder und ein Hund jagten ein Kaninchen.
Die Windrose, die der Künstler in die untere Bildmitte gesetzt hatte, war unvollendet geblieben. Eine Eigentümlichkeit, die ihr bislang nie aufgefallen war. Vielleicht sollte das ein Hinweis auf bewusste Ungenauigkeiten sein? Denn am gemalten, blassblauen Himmel standen deutlich Sonne, Mond und Sterne, die scheinbar recht sorglos dort hingesetzt worden waren, ohne Rücksicht auf die herrschende Tageszeit.
Unübersehbar war jedoch der noch immer vorhandene Burggraben, der an einer Stelle v-förmig zusammenlief. Er diente heute weniger zum Schutz vor Feinden, wie dies wohl früher der Fall gewesen sein mochte, sondern eher als interessanter Bestandteil des während mehrerer Generationen von Schlossbesitzern großzügig angelegten Gartens.
Marie berührte mit den Fingern die Stelle, von der es schien, als betrachte der junge Mann sie mit seinen stolzen hellgrauen Augen: einen Richtplatz etwas außerhalb der Burganlage. Dabei löste sich plötzlich ein Stückchen Farbe von der rissigen Oberfläche. Sie zog erschrocken ihre Hand zurück und starrte entsetzt auf die abgeblätterte Stelle. Ein kleines Fleckchen Rot war sichtbar geworden, was offensichtlich nicht zu dem Bild mit der Landschaft und der Burg gehörte.
Sie versuchte, den Schaden wieder auszubessern, indem sie mit den Fingern glättend darüber strich, was ihr aber nicht gelang. Verärgert trat sie einen Schritt zurück. Als sie feststellte, dass sie die beschädigte Stelle von dort aus nur sehen konnte, wenn sie genau hinsah, beruhigte sie sich wieder.
Sie hatte bereits etwas anderes im Sinn.
Marie warf sich einen Umhang über und verließ das Arbeitszimmer ihres Vaters. Durch eine Seitentür betrat sie den herbstlichen Garten, in dem sie eine kurze Weile umherschlenderte. Dann überquerte sie die steinerne Brücke, die das eigentliche Schloss mit den übrigen dazugehörenden Anlagen verband. Sie hielt sich rechter Hand und lief ein Stück den schmalen Kiesweg entlang auf einen flachen Hügel zu, von dem sie vermutete, dass er die einstige Richtstätte getragen haben könnte. Der Ort, von dem auf ihrem Gemälde das Stückchen Farbe abgeplatzt war.
Der Hügel war von dornigem Gestrüpp überwuchert, das ihn unbegehbar machte. Zwischen den Brombeeren und anderen, undefinierbaren Gewächsen gediehen nur noch Disteln und Brennnesseln. Die Steinbrocken, die herumlagen, waren von Efeu und anderen kriechenden und kletternden Pflanzen überwachsen, sodass man sie eher vermuten als sehen konnte.
Es war die Stelle, von der ihr Vater immer berichtet hatte, hier habe einst ein Turm oder ein altes Haus gestanden, welches aber im Laufe der Jahre zu einem Steinhaufen zusammengesunken sei, weil niemand sich darum kümmerte. Eine Geschichte, die Marie in ihren Kindertagen von verwunschenen Prinzessinnen träumen ließ, die natürlich allesamt von einem schönen Prinzen erlöst wurden, nachdem er mit dort hausenden Gespenstern und Ungeheuern um sie gekämpft hatte.
Sie sah sich um. Der Vater hatte Wert darauf gelegt, seine Ländereien sehr ordentlich zu halten. Warum gerade dieses Fleckchen hier so verwildern konnte, schien ihr reichlich unverständlich.
Wenn es sich tatsächlich um jenen alten Richtplatz handelte, weshalb hatte ihr Vater das nie erwähnt? Er hatte sein Anwesen und die Geschichte jedes Quadratzentimeters Boden gekannt. Es schien ihr unmöglich, dass er nichts von der Bedeutung dieses Platzes gewusst haben sollte. Allerdings konnte sie sich auch nicht recht vorstellen, warum er ihr ein so interessantes Detail vorenthalten hatte.
Das war so gar nicht
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