Die Rose von Angelâme (German Edition)
die Art ihres Vaters, der sich jahrelang darum bemüht hatte, ihr mit seinen alten Bildern, Berichten und Erklärungen voller Stolz die Geschichte ihrer Familie und des gräflichen Besitzes zu vermitteln.
Richtplätze hatte es schließlich häufig gegeben, und niemand würde sich darüber wundern, falls sich auch auf ihrem Anwesen ein solcher befunden haben sollte.
Was also war der Grund für seine Geheimniskrämerei?
Marie war enttäuscht. Ein Gefühl beschlich sie, als gebe es da etwas, was er ihr bewusst vorenthalten hatte, und jetzt war es zu spät, ihn danach zu fragen.
Sebastien fiel ihr ein. Vielleicht wusste Sebastien, was es damit für eine Bewandtnis hatte.
Die Idee, einem Geheimnis auf der Spur zu sein, faszinierte sie.
Zurück im Arbeitszimmer ihres Vaters trat sie erneut vor die Ansicht der alten Burg, von deren linken unteren Seite ihr bei genauem Hinsehen der winzige rote Fleck entgegenleuchtete.
Plötzlich glaubte sie, jemand stehe hinter ihr und schaue über ihre Schulter. Als sie jedoch erschrocken herumfuhr, begegnete sie lediglich dem gemalten Blick des jungen Mannes, der an ihr vorbei auf die Wand gerichtet war.
Langsam bewegte sie den Kopf hin und her und beobachtete, wie sich die Blickrichtung der gemalten Augen zu verändern schien.
Es war eindeutig, dass er nur dann auf den Richtplatz schaute, wenn sie auf dem Sessel ihres Vaters saß. Warum war ihr das früher nie aufgefallen?
Grübelnd ließ sie sich auf dem Stuhl ihres Vaters nieder. Dann lachte sie leise auf. Natürlich! Als sie das letzte Mal bewusst das Bildnis des jungen Mannes betrachtet hatte, war sie ja doch noch ein Stückchen kleiner gewesen, und sein Blick traf aus ihrer damaligen Perspektive heraus einfach nur die Wand.
Marie stand auf und trat erneut zu dem Landschaftsbild. Was nur mochte sich darunter verbergen?
Vorsichtig kratzte sie mit dem Daumennagel ein wenig neben dem roten Fleckchen Farbe an der spröden Oberfläche. Ein weiteres Stückchen platzte ab, und dann noch eines. Sie erschrak jedes Mal ein wenig, weil ihr bewusst war, dass sie möglicherweise einen nicht wieder gutzumachenden Fehler beging. Aber es ging so leicht, und irgendwie konnte sie einfach nicht aufhören, die Farbe abzublättern.
Jetzt konnte Marie deutlich erkennen, dass es sich nicht einfach nur um eine rote Grundierung handelte, die sie da freigelegt hatte. Das Rot gehörte offensichtlich zu einem gemalten Ärmelbündchen. Denn was jetzt unter der Farbe hervorkam, war der Ansatz eines Handgelenks mit einer fein gearbeiteten Armspange.
Ein Bild unter einem Bild!
Neugierig geworden trat sie neben das Gemälde, um es flach von der Seite her betrachten und anhand der Unebenheiten auf der Oberfläche feststellen zu können, was sich wohl darunter befand. Sie konnte aber nur undeutliche Konturen erkennen.
Marie dachte nach. Wenn sie das Gemälde mit der Burgansicht zerstörte und dann feststellte, dass das darunter liegende Bild nicht von Bedeutung war, war die alte Ansicht hoffnungslos verloren. Nur aufgrund des gemalten Blicks eines seit mehr als fünfhundert Jahren verstorbenen, starr auf die bewusste Stelle schauenden Ahnen wollte sie nicht etwas zerstören, das nie mehr wiederherzustellen gewesen wäre.
Sie holte Papier und Stifte und begann fieberhaft, das Original abzuzeichnen. Plötzlich hielt sie inne. Es hatte keinen Sinn, das Bild einfach so stümperhaft zu kopieren.
Von Ungeduld und Neugier geplagt läutete sie nach Honoré. Er war ein alter Diener, seit vielen Jahren zuerst ihrem Vater, und nach seinem Tod auch ihr treu ergeben.
Bevor er eintrat, schob sie, einer inneren Eingebung folgend, ihre Zeichenversuche unter die lederne Schreibtischauflage vor sich.
„Honoré“, sagte sie und stand auf, „ich brauche einen Maler.“
„Einen Maler, Demoiselle?“
Sie dachte einen Augenblick lang nach.
„Ich möchte das Schloss malen lassen.“
„Das Schloss?“ Er starrte sie an, als hätte sie von ihm verlangt, das Kolosseum im Garten aufzubauen. „Vergebung, Demoiselle: Ihr wollt das ganze Schloss neu anmalen lassen?“
„Nicht anmalen, Honoré, abmalen!“, erklärte sie ihm, als sie in sein entsetztes Gesicht sah.
„Ich bitte nochmals untertänig um Verzeihung, Demoiselle: Wofür wollt Ihr denn …“
„Honoré“, unterbrach sie ungeduldig seine Fragen. „Kennst du einen guten Maler?“
„Nein.“ Honoré war offensichtlich beleidigt. „In meinen Kreisen lässt man sich nicht malen.“
Marie überging
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