Die Rose von Angelâme (German Edition)
stets nur Vorteile bringen musste. Er verstand nach Maries Empfinden nicht nur seine eigene Familie damit hinters Licht zu führen, nein, er täuschte wohl auch ihren Vater, indem er den umgänglichen Sohn und angehenden Schwiegersohn spielte. Dass Jean-Philippes Familie diese Farce nicht durchschaute, war Marie eigentlich egal. Es wunderte sie jedoch, dass ihr Vater, der ansonsten ein unfehlbarer Menschenkenner gewesen war, sich so von ihm hatte blenden lassen.
Marie hingegen hatte nach einiger Zeit herausgefunden, was hinter der verbindlichen Fassade ihres Verlobten steckte: Er war ein liebenswerter Taugenichts, dem lediglich daran lag, ohne viel eigenes Handrühren möglichst viel vom Leben zu haben. Eine Eigenschaft, die Marie zutiefst verachtete. Umso mehr, da ihr hin und wieder der Gedanke gekommen war, dass er sie nicht wirklich liebte, sondern über eine Heirat mit ihr lediglich an das Vermögen derer von Angelâme zu kommen hoffte.
Außerdem: Wo hörte sein ‘Wunsch nach Leben’ eigentlich auf? Wie lange würde er den Verlockungen der jungen Damen standhalten, die sich bislang so hartnäckig in mittelbarer und unmittelbarer Reichweite aufgehalten und nur auf einen Wimpernschlag des schönen Herrn gewartet hatten?
Gedanken, die Marie immer mehr verunsicherten, und die gerade jetzt, im wirklich unpassendsten Augenblick auf dem Weg zur Familiengruft, ihre unbewusst längst gefällte Entscheidung endgültig machte.
Marie warf einen schnellen Seitenblick auf ihren Verlobten, als befürchtete sie, dass er ihre Gedanken erraten könnte. Jean-Philippe aber sah betont andächtig zu Boden, und Marie konnte sich vorstellen, was die Leute zu ihrem so aufrichtig trauernden Bräutigam sagen würden. Allerdings konnte sie sich fast ein Schmunzeln nicht verkneifen, als sie sich die Kommentare zu ihrem eigenen Auftreten während der ganzen Zeremonie vergegenwärtigte. Um zu verhindern, dass sie tatsächlich vor sich hinlachte, schob sie ihre Unterlippe vor und spürte im selben Augenblick einen dicken Kloß im Hals, den sie bislang erfolgreich hinuntergeschluckt hatte.
Als sie am offenen Grab ihres Vaters stand, sah sie durch den Schleier ihrer Tränen hindurch, dass ihm viele Menschen das letzte Geleit gegeben hatten. Es erfüllte sie mit Stolz für ihn. Der Strom derer, die ihr am Ende der Beisetzung mit einem Kopfnicken ihr Beileid bezeugten, schien nicht abzureißen. Sie sah bekannte und unbekannte Gesichter und vermutete, dass einige der Anwesenden zur Familie von Jean-Philippe gehörten, die bei dieser Gelegenheit einen neugierigen Blick auf dessen Braut werfen konnten.
Marie hob trotzig das Kinn und entzog ihrem Verlobten die Hand, die er seit dem Moment gehalten hatte, als der Sarg vor der Gruft abgestellt worden war. Sie holte ein weißes Spitzentuch aus ihrer Tasche und wischte sich damit die Tränen ab, die ihr bis zum Kinn hinuntergelaufen waren und auf ihr schwarzes Kleid tropften.
Einige Tage noch würde man ihr die notwendige Ruhe gönnen, sich mit ihrer neuen Situation zurechtzufinden, dann würde der Anwalt ihres Vaters erscheinen, um sie mit ihren neuen Aufgaben vertraut zu machen. Das würde ihr die Möglichkeit geben, Jean-Philippe einige Zeit von sich fernzuhalten. Er musste einfach verstehen, dass sie jetzt keine Zeit für ihn hatte.
Der Gedanke daran löste ein wenig ihre Anspannung und half ihr, diesen fürchterlichen Tag einigermaßen geduldig zu überstehen - was Marie in den wenigen Augenblicken, die man ihr in den folgenden Stunden doch noch zum Nachdenken ließ, mit einem, wenn auch minimalen, Anflug schlechten Gewissens erfüllte.
Das Erbe ihres Vaters anzutreten war schwieriger als sie geglaubt hatte. Die Besitztümer des Grafen von Angelâme waren tatsächlich nicht unerheblich. Es gab Ländereien, die verpachtet waren, vermietete Häuser, Grundstücke sogar im Ausland (davon hatte Marie überhaupt nichts gewusst), es gab Geld, das zum Teil verliehen war, und nicht zuletzt das Schloss, auf dem die Vorfahren der Angelâmes seit Jahrhunderten gelebt hatten.
Marie war kurz vor dem Tode ihres Vaters achtzehn Jahre alt geworden und brauchte nach dessen Willen keinen Vormund mehr, der sich um ihr Erbe gekümmert hätte. Deshalb war sie Sebastien, dem Anwalt und langjährigen Freund und Vertrauten ihres Vaters, dankbar für seine Hilfe bei der Regelung der Erbschaft im Sinne des Toten und, woran sie keinen Augenblick zweifelte, natürlich nur zu ihrem Besten.
Blieb Jean-Philippe.
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