Die Rose von Angelâme (German Edition)
geflissentlich seinen Tonfall.
„Da war doch einmal jemand hier, der ein Porträt meines Vaters …“, dachte sie laut vor sich hin. „Oh! Ich erinnere mich! Es war ein Mann aus der Gegend von Tours“, sagte sie und lief zu den Büchern hinüber, die in hohen Regalen an den Wänden standen.
„Tours?“ Honoré zog eine Augenbraue hoch und sah ihr zu, wie sie mit den Fingern an den beschrifteten Rücken verschiedener Folianten entlang fuhr.
„Ja, daran erinnere ich mich noch genau“, antwortete sie ihm und zog einen der Bände heraus, der sauber mit einer Jahreszahl beschriftet war. „Vater und er unterhielten sich über diese Stadt, weil der eine von dort kam, und der andere …“
Sie hielt inne. Ihre Erinnerung an diese Gespräche war nur dürftig. Sie war damals gerade erst fünf oder sechs Jahre alt gewesen, und während der Vater für das Porträt stillsaß, spielte sie zu seinen Füßen mit ihren Puppen. Sie hatte dem Maler jedoch gerne zugehört, da er, um dem Vater das anstrengende Stillsitzen etwas zu erleichtern, Geschichten erzählte, die er auf seinen vielen Reisen erlebt haben wollte. Manchmal lachten die beiden herzlich, wenn der Vater ihm auf die Schliche gekommen war und herausgefunden hatte, dass er ihm einen fürchterlichen Bären aufgebunden hatte.
Aber mit Tours war irgendetwas anderes gewesen. Marie konnte sich nicht mehr daran erinnern, was dieser Ort mit ihrem Vater zu tun gehabt hatte, und fragte Honoré danach.
Honoré jedoch schwieg. Er dachte offenbar gar nicht daran, der Demoiselle auf die Sprünge zu helfen.
Sie hatte einen der Bände herausgezogen, der ungefähr aus der Zeit stammen musste, als das Porträt ihres Vaters entstand, und blätterte eine Zeit lang darin, um ihn dann aber wieder an seinen Platz zurückzustellen. Sie hatte nicht gefunden, was sie gesucht hatte.
„Es muss sich eine Abrechnung für das Porträt meines Vaters in einem dieser Bücher befinden, Honoré. Versuch doch, dich zu erinnern, wann das war!“
„Das ist einfach, Demoiselle, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.“ Honoré straffte den Rücken und ließ ein paar Mal leicht die Schultern kreisen, als wäre er gerade aufgestanden und würde seine verspannten Muskeln lockern. Marie beobachtete ihn amüsiert. Beleidigt sein ist eine Sache, dachte sie, wichtig sein eine andere.
„Der Künstler hat sicherlich das Datum auf dem Bild vermerkt, als es fertiggestellt war“, sagte Honoré schließlich mit dem Gesichtsausdruck eines Advokaten, der den letzten, entscheidenden Trumpf zugunsten seines Klienten ausspielte.
Marie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
„Nein, Honoré, leider nicht. Vielleicht aber können wir seine Signatur entziffern und ihn so wieder finden?“
„Warum muss es denn unbedingt dieser Maler sein?“, fragte Honoré, besann sich aber tunlichst eines besseren, und fügte in bedauerndem Tonfall hinzu: „Verzeiht gütigst. Ich erinnere mich zwar an diesen Maler, Demoiselle Marie. Aber ich weiß nicht, wo er sich aufhält. Es ist ja auch schon über zehn Jahre her. Möglicherweise lebt er gar nicht mehr. Schließlich war er damals schon nicht mehr der Jüngste.“ Honoré zuckte bedauernd die Schultern, als wäre er persönlich für den Alterungsprozess gewisser Menschen verantwortlich.
„Ich sehe schon, du kannst mir auch nicht weiterhelfen.“ Marie stand unschlüssig hinter dem Schreibtisch ihres Vaters und sagte dann: „Lass das Abendessen richten. Ich komme in einer halben Stunde.“
Honoré ging. Marie hob eine Ecke der Lederauflage auf dem Schreibtisch ein Stück an und zog ihre Zeichnung darunter hervor. Schmunzelnd schaute sie auf das herab, was sie da gemalt hatte. Mehr eine Kinderzeichnung als eine Kopie, dachte sie und zerknüllte ihr Werk. Sie würde es im Speisezimmer in den Kamin werfen.
Da fiel ihr auf, dass ein weiteres Stückchen Papier unter dem Leder hervorlugte, welches sie wohl mit ihrem Blatt zusammen herausgezogen hatte. Sie hob die Auflage an und stellte überrascht fest, dass dort gleich mehrere beschriebene Papierbögen lagen, die sie niemals vorher gesehen hatte.
„Ein Maler?“ Sebastien runzelte erstaunt die Stirn. „Ja, vor vielen Jahren hat einmal einer Euren Vater porträtiert. Aber ich kann mich nicht erinnern, woher er war und wohin er ging. Ich kenne einen aus Toulouse, und soweit ich informiert bin, war er bis vor ein paar Wochen bei der Familie des Grafen von Arques zu Gast, die er malen sollte.“ Er zwinkerte
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