Die Rose von Asturien
keine Gelegenheit ausgelassen, seine Herden zu vergrößern. Es geschah ihm recht,dass er bei einem simplen Viehraub wie ein tollwütiger Hund erschlagen worden war.
Bei der Erinnerung spielte ein spöttisches Lächeln um Okins Lippen, und er richtete seine Gedanken wieder auf das, was er tun musste, damit ihm der Lohn jener Tat nicht unter den Händen zerfloss. Er nahm den Becher Wein entgegen, den Estinne ihm reichte, und während er trank, ließ er sich von ihr die Kleidung richten.
Um seine herausgehobene Position zu unterstreichen, hatte Okin eine Tracht gewählt, die dem Häuptling eines großen Stammes angemessen war. Seine Hosen bestanden aus bester Wolle, die Riemen der Sandalen waren bis zu den Waden geschnürt, und über dem rot bestickten Leinenhemd saß eine weit ausgeschnittene Tunika in hellgrüner Farbe mit aufgenähten Säumen. Dazu trug er eine mit Eichhörnchenfell verzierte Mütze und einen weiten Umhang, den er nur über die linke Schulter geworfen hatte, damit sein Schwertgehänge und die in einer verzierten Lederscheide steckende Waffe gut zu sehen waren. Dieses Schwert war ein Geschenk des Grafen Eneko. Seine eigene Waffe war Okin nicht mehr gut genug für einen Anführer seines Ranges erschienen, und die gute Klinge seines Schwagers war damals zur Beute der Asturier geworden.
Das Stimmengemurmel auf dem Dorfplatz erstarb, als Okin auf die Männer zutrat. Einige starrten ihn mit unverhülltem Zorn an, während andere ihn hochleben ließen. Dabei stellte Okin zufrieden fest, dass die Mehrheit der Anwesenden auf seiner Seite stand. Er hob die Hand, um Schweigen zu gebieten, und wies dann auf seinen Gast.
»Die meisten von euch kennen Zigor aus Iruñea. Den andern sei gesagt, dass er einer der engsten Gefolgsleute Graf Enekos ist.«
»Was will der denn hier? Dies ist eine Stammesversammlung, und da hat ein Mann aus Iruñea nichts verloren!« Amets vonGuizora hatte den Kampf um die Würde des Stammesanführers noch nicht aufgegeben und wollte Okin von Anfang an in seine Schranken weisen. Doch zu seinem nicht geringen Ärger erntete er etliche unfreundliche Zurufe. Auch wenn die Männer an den althergebrachten Sitten hingen, spürten sie, dass die Zeiten sich wandelten, und wollten wissen, was auf sie zukommen würde.
Insgeheim triumphierte Okin. Endlich hatte er den Rückhalt im Stamm, den er seit Ikers Beseitigung angestrebt hatte. Er straffte den Rücken, um größer zu wirken, und wies auf seinen Gast. »Unser Freund Zigor kommt mit einer Bitte seines Herrn zu uns. Es geht um das asturische Mädchen, das Maite vor einigen Monaten als Gefangene in unser Dorf gebracht hat. Wie ihr alle wisst, handelt es sich dabei um die Tochter Graf Roderichs, unseres nächsten Nachbarn jenseits der Grenzen. War der Raub des Mädchens bereits Irrsinn, da er nur den Zorn und die Rachsucht des Grafen hervorrufen konnte, so hat Maite sich nun meinem Rat und allem guten Zureden widersetzt und ist mit Ermengilda in die Berge geflohen.«
»Welchen Rat meinst du?«, wollte Amets von Guizora wissen.
»Das soll dir unser Gast erklären.« Okin trat einen halben Schritt zurück, um Enekos Boten das Wort zu überlassen. Ganz wohl war ihm dabei nicht, denn wenn die Männer den Fremden nicht auf der Stammesversammlung reden lassen wollten, würde er den kaum errungenen Vorteil gleich wieder verlieren. Doch zu seiner Erleichterung stimmten alle Anführer bis auf Amets seinem Vorschlag zu.
Zigor rieb sich über die Nase und stellte sich breitbeinig in Positur. Noch vor einem Jahr hatte Eneko von Iruñea ihn hierherschicken wollen, um den Stammesältesten eine Heirat zwischen Maite und einem seiner Söhne schmackhaft zu machen. Jetzt konnte sein Anführer froh sein, dass er diesen Plan nichtweiter verfolgt hatte. Denn wenn König Karl die versprochenen Titel und Würden bestätigte, würden der junge Eneko und sein Bruder Ximun weitaus hochrangigere Mädchen freien können als die Tochter eines kleinen Berghäuptlings.
Nun aber galt es, die Männer dieses Stammes von den Vorteilen eines Bündnisses mit seinem Herrn zu überzeugen. War eine solche Vereinbarung erst einmal beschworen, konnte Eneko sie in einem zweiten Schritt vollends seiner Herrschaft unterwerfen. Vorerst aber musste er behutsam vorgehen, damit die Bergler den Köder schluckten. Daher richtete er den Versammelten die Grüße seines Herrn auf eine Weise aus, die ihnen schmeicheln musste, und pries das gute Verhältnis zwischen ihrem Stamm und
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