Die Rose von Asturien
Gewicht sie mit sich auf den Abgrund zu.
Maite sah sich schon zerschmettert neben Ermengilda liegen, bekam aber mit der freien Hand die Zweige eines Buschs zu fassen und kroch mit seiner Hilfe von der Kante weg. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis sie wieder auf sicherem Boden lag, und bei jedem Atemzug war sie sich bewusst, dass Ermengilda wie ein Mühlstein an ihrem Arm hing. Sie hörte die Asturierin in Todesangst schreien.
»Verdammt! Halt den Mund, du dummes Schaf. Sonst lasse ich dich fallen!«
Augenblicklich verstummte Ermengilda, die nicht begreifen konnte, dass sie noch am Leben war. Es schien, als sei sie in einem Alptraum gefangen, in dem sie hoch über Felsen hing, die scharfen Zähne glichen und sie im nächsten Augenblick zerfleischen mussten. Doch Maite ließ nicht los, sondern begann sogar, sie wieder nach oben zu ziehen.
»Du musst mich unterstützen! Kannst du den Abhang erreichen? Versuch, mit den Händen irgendwo Halt zu finden und dadurch Gewicht wegzunehmen. Ich kann dich nicht mit einem Arm herausziehen.«
Ermengilda wand sich in Todesangst, gehorchte aber und fand tatsächlich ein Felsband, das nicht gleich aus der Felswand brach. Vorsichtig krallte sie sich fest und stemmte ihren Körper so gut wie möglich nach oben. Dort zog Maite mit aller Kraft an ihr und zerquetschte ihr fast den Knöchel. Ermengildas Waden rissen an der scharfen Kante auf, und der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen. Halbblind tastete sie nach einem anderen Halt, um die Waskonin zu unterstützen. Maite zerrte sie über den Fels, bis ihr Bauch auf festem Boden lag. Dann bohrte sie ihr beide Hände in die Rippen, hob sie an und rollte sie von der drohenden Tiefe weg.
Während Ermengilda zusammensank und vor Erleichterung aufschluchzte, übermannte Maite der Zorn. »Versuche es nie wieder, mich anzugreifen! Das nächste Mal werde ich dich töten!«, schrie sie, zog ihren Dolch und brachte der Asturierin einen kleinen Schnitt auf der Wange bei. Es war keine tiefe Wunde, und es würde auch kaum eine Narbe zurückbleiben. Aber sie blutete so heftig, dass dem Mädchen ein roter Faden über Kinn und Hals rann und im Stoff des Kittels versickerte. »Das war eine Warnung«, zischte Maite. »Und jetzt heb deinen Korb auf! Wir ziehen weiter.«
Ermengilda wollte etwas sagen, brachte aber nur ein unverständliches Krächzen über die Lippen. Als sie den Korb aufheben wollte, brach sie in die Knie und krümmte sich weinend am Boden.
Maite nahm jedoch keine Rücksicht auf sie, sondern jagte sie mit einem Fußtritt auf die Beine und zwang sie, den Korb auf den Rücken zu nehmen.
»Weiter in diese Richtung!« Sie deutete auf einen Pfad, der eine Wiese durchquerte und im nahe gelegenen Wald eintauchte.
Nun ging es wieder abwärts, und um diesen Weg zu erreichen, hätten sie nicht so hoch hinaufsteigen müssen. Ermengildawar verwirrt, wagte aber nicht, sich zu widersetzen. Ihr Hals schmerzte, und als sie schluckte, hatte sie das Gefühl, ihr Kehlkopf würde zerspringen.
Maite trieb Ermengilda unbarmherzig an und benutzte dabei die Gerte. Nun kannte sie ihr Ziel und wollte es so schnell wie möglich erreichen. Es war ihr klargeworden, dass sie nicht ihre Gefangene bewachen und gleichzeitig auf der Hut vor den Leuten ihres eigenen Stammes sein konnte. Außerdem würde Eneko von Iruñea ihr mit Sicherheit auch die Nachbarstämme auf den Hals hetzen. Früher oder später würde man sie ausfindig machen und ihr Ermengilda gewaltsam abnehmen. Dann würden Eneko und ihr verhasster Onkel den Preis für die Asturierin kassieren, während sie als Verliererin dastand und Okins Macht im Stamm wachsen sah. In dem Augenblick begriff sie, dass sie sich bald einen Ehemann würde suchen müssen, um Okin zu entmachten. Allerdings fühlte sie sich noch ganz und gar nicht bereit für eine lebenslange Bindung.
7.
S
elbst zu Ikers Zeiten waren nicht so viele Männer aus den anderen Dörfern zu den Versammlungen erschienen wie an diesem Tag. Für Okin war es ein Triumph, all diese Menschen, darunter sämtliche Anführer, begrüßen zu können. Nicht einmal sein Rivale Amets hatte sich seinem Ruf verweigert.
Es waren genug Krieger versammelt, um einen ernsthaften Raubzug über die Grenze in Graf Roderichs Land oder in die Maurenlande zu führen. Okin dachte kurz daran, dass Maites Vater einer solchen Verlockung nicht hätte widerstehen können. Iker hatte stets ein begehrliches Auge auf die Schafe und Ziegen seiner Nachbarn gerichtet und
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