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Die Rose von Ernstthal. Erzgebirgische Dorfgeschichten

Die Rose von Ernstthal. Erzgebirgische Dorfgeschichten

Titel: Die Rose von Ernstthal. Erzgebirgische Dorfgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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hinter ihr und verfolgte, die Hände auf die Lehne ihres Sessels gestützt, mit ungewöhnlicher Spannung ihr Spiel. Als sie geendet hatte, griff er unter die daliegenden Notenhefte, um ihr eins derselben vorzulegen.
    »Ist Ihnen dieses Stück bekannt?«
    »Nein.«
    »Versuchen Sie einmal, es vom Blatte zu spielen!«
    Sie folgte der Aufforderung und zwar mit einer Gewandtheit, die ihn in Erstaunen setzte.
    »Mein Kind,« entschied er, »ich kann nicht Ihr Lehrer sein; Sie spielen fast besser noch als ich. Aber wenn es Ihnen recht ist, so können wir wöchentlich einige Male zusammen musiziren. Es wird mir das ein Vergiiugen, eine liebe Erholung sein!«
    »Ich danke Ihnen, Herr Kantor!« antwortete sie freudig. »Darf ich Ihnen nicht auch Etwas vorsingen?«
    Sie suchte unter den Noten. Da fiel ihr ein Titel in das Auge, bei dessen Anblicke es wie bei dem Wiedersehen eines lieben Freundes warm und licht über ihr Angesicht ging. Er konnte nicht erkennen, welche Blätter sie vor sich auseinanderschlug, aber beim Beginn der Einleitung fuhr er mit der Hand nach der Brust und machte eine Bewegung, als wolle er sie am Weiterspiele hindern. Doch da erklangen auch schon die ersten Worte des Liedes, welches er haßte, obgleich er es selbst in Musik gesetzt hatte, welches er nicht hören mochte, und doch seit Jahren Tag für Tag in Folge eines innern Gebotes hatte spielen müssen:
     
    »O gräme nie ein Menschenherz,
    Das Dein in treuer Liebe denkt.
    Du hebst wohl nimmermehr den Schmerz,
    Der sich in seine Tiefen senkt!«
     
    Es entging ihm, daß der Vortrag nicht vom Blatte, sondern aus dem Gedächtnisse geschah; er verfolgte nicht das weiche, eindringliche Motiv der Melodie in seinen kunstgerechten und doch so einfachen Wiederholungen und Umkehrungen, er vernahm nur die Worte des Textes, deren Ernst ihn noch nie so gepackt hatte, wie jetzt unter dem Eindrucke einer Stimme, die wie ein ungelöstes Räthsel an sein Ohr schlug.
    Schon längst war der letzte Ton verklungen und noch immer harrte das Mädchen vergebens auf ein Wort aus dem Munde des tief ergriffenen Mannes. Und als er endlich sprach, geschah es leise und wie abwesend, als sei er der Gegenwart entrückt und befinde sich mitten unter den Gestalten einer längst vergangenen Zeit.
    »Wo der Silberheiner nur die Gedanken hernimmt zu all den Liedern, die er dichtet! Sie klingen Einem bis hinein in die innerste Seele; man kann ihnen nicht widerstehen, und so oft er ein neues fertig hat, muß ich es komponiren, ich kann nicht anders. ›O gräme nie ein Menschenherz!‹ War das etwa eine Prophezeiung, eine Warnung für mich? Er hat mich so lieb gehabt, fast wie ein Sohn, und als die Alwine das Lied zum ersten Male gesungen hat, da – die Alwine? Halt,« rief er, sich rasch vom Stuhle erhebend und, plötzlich in die Gegenwart zurückgekehrt, sich an die Sängerin wendend; »jetzt weiß ich auf einmal, warum mich Ihre Stimme so ergriffen hat! Es ist die Stimme eines Wesens, welches mir unendlich lieb und theuer war und doch sich von mir trennte wie – wie die Scholle von der Küste: um von der Brandung fortgerissen und verschlungen zu werden. Ihre Laute klingen etwas zarter, weicher, nachgiebiger, nicht so sicher, entschieden und sonor wie diejenigen, welche ich meine, aber wenn Sie denselben Umfang besitzen, den Alwinens Stimme beherrschte, so könnte ich endlich, endlich wieder einmal – und vielleicht wäre es das letzte Mal – meine Weihnachtskantate zur Aufführung bringen. Bitte, lassen Sie uns einmal versuchen!«
    Er griff in die Tasten, um die angegebene Prüfung vorzunehmen. Sie fiel ganz nach seinem Wunsche aus, und nun war aus dem finstern, melancholischen Manne auf einmal ein ganz Anderer geworden. Mit jugendlicher Ungeduld trat er an ein Büchergestelle, schlug den Vorhang zurück und brachte ein umfangreiches Notenpaket hervor, welches er von seiner Umhüllung befreite.
    »Das ist die Kantate, zu welcher der Silberheiner die Verse gemacht hat. Das Gedicht ist ein wahres Meisterstück von ihm; kein Doktor und Professor könnte den Stoff besser behandeln, und die Aufführungen haben uns große Ehre eingetragen. Ich hatte die Soli’s im Tenor für ihn und die im Sopran für Alwine gesetzt, und da mir diese Beiden später nicht mehr verfügbar waren, so hat das Stück bisher unbenutzt gelegen, obgleich ich bei jedem Weihnachtsfeste dringend aufgefordert worden bin, es zur Aufführung zu bringen. Jetzt können Sie den Diskant übernehmen, und die Tenorpartie

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