Die Rosen von Montevideo
wurde?«, fragte sie stolz.
»Es geht durch den Gran Chaco, das ist ein gefährlicher Dschungel, ein undurchdringliches Schilfdickicht, in dem Kannibalenstämme hausen und jede Menge Tiere: Pumas und Tapire, Krokodile und Heuschreckenschwärme, Tiger und Giftschlangen.«
Valentín hatte sein Instrument wieder eingepackt. »Halt den Mund!«, fuhr er seinen Bruder an.
Pablo runzelte irritiert die Stirn, schwieg jedoch.
Valentín wandte sich zu Valeria: »Hab keine Angst, dir wird nichts passieren. Wenn man sich im Dschungel nicht auskennt, ist es lebensgefährlich – aber wir … ich war oft dort.«
Sie erwiderte seinen Blick. »Ich habe keine Angst«, erklärte sie mit Bestimmtheit.
Das war nicht gelogen – nach all den Torturen und Ängsten, die sie durchzustehen hatte, nach dem schrecklichen Schusswechsel und den Tränen, die sie eben vergossen hatte, fühlte sie, dass etwas in ihr erwachte, das stärker, zäher und erwachsener als die Valeria von einst war – und trotz allem auch neugierig auf das bevorstehende Abenteuer.
Die Hitze wurde immer drückender, weil feuchter, und setzte Valeria von Tag zu Tag mehr zu, aber die Reise auf dem Río Paraguay war weniger anstrengend als zu Pferde: Wie Pablo verkündet hatte, bestiegen sie mitsamt den Tieren eine Chalana, ein kleines Boot mit zwei Masten und Segeln aus Häuten. Lautlos glitt es über das grünliche Wasser und geriet jedes Mal heftig ins Schaukeln, wenn sie an größeren Schiffen vorbeikamen. Sehnsuchtsvoll blickte Valeria diesen nach, denn der Mittelteil der meisten war bedacht, und die Passagiere waren – anders als sie – vor Wind, Sonne und manchmal Regen geschützt. Obwohl sie wusste, dass hier nur Paraguayer unterwegs waren und es wenig Sinn ergab, um Hilfe zu rufen, wurde der Drang, verzweifelt zu schreien, manchmal übermächtig. Doch sie sagte sich, dass diese Reisenden wohl kaum Mitleid mit einem entführten Mädchen hätten und ein jeder zu sehr bedacht darauf war, die vielen Gefahren der Flussfahrt zu bezwingen, als auf dieses zu achten. Der Wasserstand war niedrig; immer wieder galt es, seichte Stellen und Sandbänke zu umschiffen. Noch größere Gefahr drohte von den Bäumen, die einst am Ufer gestanden hatten, dann aber vom Hochwasser untergraben wurden und auf Grund gesunken waren. Im schlickigen Wasser konnte man sie nicht erkennen, doch rammte man gegen ihren Stamm, konnte das Schiff schwer beschädigt oder gar zur Seite geworfen werden.
Valentín sorgte weiterhin dafür, dass niemand ihr zu nahe kam und sie genug zu essen hatte, und er hielt den Bruder offenbar davon ab, sie wegen des Fluchtversuchs mit Jorge zu bestrafen. Nachdem sich die erste Erschütterung gelegt hatte, musterte der sie zwar oft grimmig, ließ sie ansonsten jedoch in Ruhe. Nur einmal, als sie zum Ufer blickte, drohte er: »Wenn du uns Schwierigkeiten machst, werfe ich dich ins Wasser – dort wimmelt es von Krokodilen.«
Valeria erschrak. Insgeheim war sie sich zwar sicher, dass das nur eine leere Drohung war – als Geisel war sie schließlich viel zu kostbar, um leichtfertig ihr Leben aufs Spiel zu setzen –, aber ihr Schiff war sehr schmal. Was, wenn es kenterte?
Valentín erriet ihre Sorgen: »Du musst keine Angst haben – Krokodile gehen den Schiffen meist aus dem Weg.«
Statt der Krokodile sah sie viele andere fremde Tiere – so Papageien, die in großen Schwärmen bis zu hundert Tieren das Boot umkreisten und den Himmel so bunt wie eine Blumenwiese färbten. Ihr Gekreisch war ohrenbetäubend – gänzlich still dagegen waren die Hundertschaften von Wasserschlangen und Kaimanen, die auf den Sandbänken lagen und die hastig flohen, wenn man ihnen zu nahe kam.
Valeria ekelte sich vor den Schlangen, doch Valentín meinte, dass sie nicht giftig und darum ungefährlich wären. »Viel bedrohlicher sind die Rayas: Das sind Fische, die man an seichten Stellen vorfindet. Mit den sägeförmigen Stacheln ihres Schwanzes können sie einem empfindliche Wunden zufügen. Nicht sonderlich angenehmer ist eine Begegnung mit Palometas – das ist eine kleine, gefräßige Fischart, die Menschen in Finger und Zehen beißt.«
Bei der Erwähnung der vielen Tiere musste Valeria an Claire denken, die sich so für die Flora und Fauna des Landes interessiert und das naturwissenschaftliche Museum in Montevideo besucht hatte. In diesem Augenblick hätte sie ihr Leben gegeben, nur um zu wissen, wie es ihr ging. Tränen traten in die Augen, die sie
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