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Die Rosen von Montevideo

Die Rosen von Montevideo

Titel: Die Rosen von Montevideo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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getränkte Guaven.
    Selbst lange nachdem Valentín sein Lied beendet hatte, blieb er in Erinnerungen versunken. »Manchmal hat sie mir einen Granatapfel zugesteckt«, flüsterte er. »Wie saftig seine Kerne waren und wie süß. Wir hatten nicht viele davon, es war ein großer Luxus und Pablo immer neidisch, wenn ich einen zugesteckt bekam und er nicht.«
    »Wieso hat sie ihn dir gegeben und nicht ihm?«
    »Nun, weil ich für sie gesungen habe …«
    Valeria sah kurz zwei Knaben vor sich, streitlüsterner und stärker der eine, sanfter und gemütvoller der andere. Sie konnte sich auch ihre Mutter vorstellen, besorgt, liebevoll und warmherzig – alles, was Rosa nie gewesen war. So heftig ihre Sehnsucht nach der Heimat aufgeflammt war, nach Claire, nach Onkel Carl-Theodor oder Frau Lore – ihren Eltern hatte sie nicht gegolten, und kurz neidete sie es Valentín, dass er, auch wenn er sie auf grausame Weise verloren hatte, zumindest die Geborgenheit einer Familie erlebt hatte.
    Voller Sehnsucht lächelte er. So weich war sein Gesicht noch nie gewesen, und zum ersten Mal fiel ihr auf, wie ebenmäßig seine Züge waren. »Wenn ich an sie denke«, sagte er leise, »versuche ich, das Bild zu verdrängen, wie sie tot vor mir lag. Stattdessen male ich sie mir aus, wie sie Zitronen pflückt, Limonade macht und mir zur Hängematte bringt.«
    »Was ist denn eine Hängematte?«
    »Oh, man sagt uns nach, ein faules Volk zu sein. Wir bauen Maniok, Zitronen, Korn und Yerba an, aber all das braucht nicht viel Arbeit, sondern wächst von selbst. Darum verbringen wir viel Zeit in einem Tuch, das zwischen zwei Bäumen aufgehängt wird. Als Kind habe ich dort Limonade getrunken, später Zigaretten geraucht, gerade an heißen Tagen, auch wenn Hitze hierzulande nie wirklich unerträglich wird.«
    »Du hast in der Hängematte vor allem viel gelesen«, schaltete sich Pablo plötzlich ein.
    Valeria zuckte zusammen; so auf Valentín konzentriert, hatte sie gar nicht bemerkt, dass sein Bruder sie seit geraumer Zeit beobachtete. Auch in seinem Gesicht stand ein Lächeln, aber es war nicht warm, sondern verächtlich.
    Valeria fühlte sich ertappt, Valentín machte wieder ein finsteres Gesicht. Kurz schien er Pablo heftig widersprechen zu wollen, doch dann verkniff er sich jedes Wort, rückte lediglich von Valeria ab. An diesem Abend sang er nicht mehr.
    Er mag seinen Bruder ja gar nicht, dachte Valeria. Nicht so wie seine Mutter, nicht so wie die Schwestern, aber nach dem Verlust der übrigen Familie war niemand anderer da, um ihn zu lieben. Und in diesen gefühlvollen Augen stand jede Menge Liebe, die verzweifelt ein Ziel suchte, Sehnsucht auch nach einem besseren, friedlichen Leben, nach einer Welt ohne Blutvergießen und Gewalt.
    In dieser Nacht lag Valeria lange wach und fragte sich, was schlimmer war: erlebt zu haben, wie sich Glück anfühlte, und es zu verlieren – oder durch die Welt zu wandeln, ohne genau zu wissen, wohin der Weg führen sollte, was einem fehlte, und Entscheidungen oft nur aus Trotz und Rebellion zu treffen. War sie wirklich nach Montevideo gereist, weil sie das fremde Land kennenlernen wollte oder vielmehr, um eine möglichst große Distanz zwischen sich und ihre Eltern zu bringen?
    Unweigerlich musste sie wieder an Claire denken, die geliebte Cousine, auf die sie sich ungleich mehr hatte verlassen können als auf Albert und Rosa, doch sie schluckte die Erinnerungen hinunter, denn sie wusste: Wenn sie sich ihren Sorgen hingab und der Vergangenheit nachhing, würde sie das, was auch immer bevorstand, nicht ertragen können.
     
    Die ersten Tage nach dem Sturz vom Pferd versank Claire immer wieder in Ohnmacht. Jedes Mal war sie erleichtert, sich in die gnädige Schwärze flüchten zu können, denn kaum erwachte sie daraus, litt sie an den schlimmsten Schmerzen ihres Lebens. Sie war überzeugt, dass sie sterben würde, vor allem, wenn sich Luis’ Gesicht über sie beugte – nicht ausdruckslos und beherrscht wie meist, sondern voller Sorgen und Pein. Auch andere Menschen traten dann und wann zu ihrem Krankenbett, doch für diese hatte sie keinen Kopf.
    Erst nach einigen Tagen blickte sie sich um und stellte fest, dass sie in einem einfachen, aber sauberen Zimmer lag. Sie tastete unter sich, fühlte eine Matratze und ein Betttuch aus Leinen. Vorsichtig hob sie den Kopf an – und wurde sofort wieder mit scheußlichen Schmerzen bestraft. Immerhin reichte ein kurzer Blick, um zu erkennen, dass ihr rechter Fuß auf

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