Die Rosen von Montevideo
sang er in einer fremden Sprache – in Guaraní, der Sprache der Indianer Paraguays. Es war ein langes Lied mit unzähligen Strophen.
»Wovon singst du?«, fragte Valeria, als es zu Ende war.
»Vom Leben in Paraguay, wie es vor dem Krieg war«, antwortete er sehnsuchtsvoll. »Ich singe von Asunción mit seinen roten Ziegeldächern, den mit Pilastern und Kolonnaden verzierten Häusern, den von Orangenbäumen gesäumten Straßen. Die Männer schaukeln in ihrer Hängematte, trinken Tee und gaffen den Frauen nach. Jung sind die Frauen und schön. Sie tragen ihre Haare so kurz, dass man den Nacken sehen kann, und unter ihren weißen Baumwollkleidern und den gebauschten Spitzenunterröcken ahnt man ihre Knöchel. Ihre Augen funkeln; während sie Zigarre rauchen wie die Männer, lächeln sie diesen kokett zu, und um die schmale Taille glänzt eine rote Schärpe. Sie sind anmutig, diese Frauen, lebenslustig und fröhlich …«
Er brach ab. Erst jetzt bemerkte Valeria, dass nicht nur sie gebannt seinen Worten gefolgt war, sondern auch die Männer. Nur Pablo hatte sich abgewandt, vielleicht, damit man nicht in sein Gesicht sehen und in seiner Rührung eine Schwäche vermuten könnte.
Valentín selbst fixierte weiterhin die Saiten und gab sich nun ganz und gar den Erinnerungen hin. »Im Sommer tragen die Frauen manchmal Spitzenblusen. Unsere Mutter … Sie konnte so wunderbar klöppeln, und sie war so stolz darauf. Vor einigen Jahrhunderten hatte es eine unserer Vorfahren von den Jesuiten gelernt, die diese Fertigkeit nach Südamerika gebracht hatten. Als Kind habe ich ihr oft stundenlang zugesehen, wie ihre Hände flink um die Nägel huschten. Es waren schmale, feine Hände.«
Er musterte seine eigenen, als gehörten sie nicht ihm, und Valeria ahnte, dass er ein Tor zu Erinnerungen aufgestoßen hatte, das er sonst wohlweislich geschlossen hielt. Und als er wieder zu spielen fortfuhr, stiegen auch bei ihr Erinnerungen hoch. Das Heimweh trieb ihr Tränen in die Augen, als sie an Deutschland dachte und das Leben im Haus der Gothmanns.
Gewiss, sie war oft unglücklich gewesen, hatte unter der Kälte der Eltern gelitten oder sich gelangweilt, aber nun dachte sie nur an das Gute, das ihr widerfahren war, an die leuchtenden, saftigen Wälder des Taunus, den würzigen Geruch nach feuchter Erde, an Frau Lore, die in der Küche stand und Pflaumenmus kochte, an Claire, mit der sie heimlich in der Speisekammer genascht hatte. Eigentlich hatte nur sie genascht, und Claire hatte Wache gestanden und sie ermahnt, sich zu beeilen. Sie dachte an Spaziergänge an lauen Sommerabenden, wenn das sattgrüne Gras unter ihren Füßen raschelte, und an Schlittenfahrten an eisigen Wintertagen, wenn der Schnee unter den Hufen der Pferde knirschte. Dick verschneit waren die spitzen Dächer der Dörfer, die sie passierten und deren Bewohner nach draußen stürzten, um die Herrschaften anzustarren. Manchmal hatten Claire und sie ihnen Süßigkeiten zugeworfen. Ob sie ihre Heimat jemals wiedersehen würde? Ob Claire überhaupt noch lebte?
In den letzten Tagen hatte sie den Gedanken an sie verdrängt, doch nun konnte sie das nicht länger. Ihre Kehle wurde immer enger, und sie schloss die Augen, damit die vielen Tränen nicht über ihre Wangen perlten. So schluchzte sie lautlos, während Valentín weitersang.
Irgendwann hörte er mitten in einer Strophe zu spielen auf, und als sie die Augen aufschlug, sah sie seinen Blick auf sich ruhen. Er räusperte sich, schien wie aus einem Traum, einem schönen Traum, zu erwachen und wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren.
»Vielleicht ist es besser, die Vergangenheit ruhenzulassen. Die Heimat, wie sie war, gibt es nicht mehr. Das Leben, wie ich es liebte, hat der Krieg zunichtegemacht.«
Seine harten, kalten Worte brachen den Bann. Valerias Tränen versiegten, die Männer wurden wieder zu Feinden, und als Pablo sich ihnen zuwandte, war seine Miene finster und bedrohlich wie eh und je.
»Ab morgen sind wir nicht länger per Pferd unterwegs, sondern auf dem Fluss«, verkündete er in die Stille.
Valeria verkniff es sich zu fragen, warum das so war, doch er verzichtete nicht darauf, ihr zuzusetzen.
»Ja, Püppchen, dazu bist du nicht erzogen worden – auf dem Río Paraguay zu reisen.«
Er war auf sie zugetreten, und Valeria duckte sich unwillkürlich. Aber ob es nun die Erinnerungen an ihr Zuhause waren oder ihr Stolz – sie wollte ihm ihre Furcht nicht zeigen.
»Woher weißt du, wozu ich erzogen
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