Die Rosen von Montevideo
sie hoffte inständig, bald erlöst zu werden und zu erfahren, dass es Valeria gutging. In Gedanken war sie so oft bei ihr und Espe, und längst bedauerte sie es bitter, dass sie nicht mit ihrer langjährigen Dienerin nach Montevideo gereist war, sondern der Bequemlichkeit nachgegeben hatte und nun den Preis dafür zu zahlen hatte – den üblichen Frieden nämlich, den sie mit Nichtstun und dem Gleichmaß der Tage erkaufte, missen zu müssen.
Als Albert eines Tages nach ihr rief und aufgeregt verkündete, dass Carl-Theodors Kutsche eben die Auffahrt entlangkam, konnte sie die übliche Distanz nicht wahren. Sie stürzte die Treppe hinunter und umkrampfte seine Hände wie bisher nur ihre eigenen, und anstatt vor dieser ersten Berührung seit Jahren gleich wieder zurückzuzucken, wurde ihr Händedruck immer fester, als wollte sie ihn gar nicht mehr loslassen.
»Er bringt doch gute Nachricht!«, rief sie verzweifelt.
Als Albert nur die Schultern zuckte und sie in seinem Gesicht die gleiche Angst zu lesen glaubte, die sie selbst zerrüttete, konnte sie sich nicht länger vormachen, recht entschieden zu haben: »Wir hätten nicht hierbleiben dürfen!«, platzte es aus ihr heraus. »Wir hätten sofort nach Montevideo fahren müssen!«
»Du wolltest doch selbst … Ich habe doch nur … Warum hast du nicht …«, setzte er mehrmals an, um dann aber abzubrechen und stattdessen zuzugeben: »Du hast ja recht.«
Sie rechnete es ihm hoch an, dass er ihr die Verantwortung für die Fehlentscheidung nicht allein zuschob, sondern tief zerknirscht wirkte. Gemeinsam traten sie nach draußen, um Carl-Theodor zu begrüßen, und erst als die kalte Luft sie traf, bemerkte sie, dass sie immer noch seine Hand hielt. Sie ließ ihn los, war aber dennoch froh, ihn an ihrer Seite zu wissen, als Carl-Theodor ihnen – noch ehe er das Haus betrat – berichtete, was er in Erfahrung gebracht hatte: dass nämlich Valeria nach vielen Monaten nach Montevideo zurückgekehrt sei.
»Das heißt, sie lebt! Gott sei Dank!«
Als Carl-Theodor mit gesenktem Gesicht noch mehr zu berichten hatte, erst ein wenig herumdruckste, schließlich mit der ganzen Wahrheit herausrückte, erbleichte Rosa jedoch.
Valeria hatte sich mit einem Paraguayer eingelassen … besitzlos, ein Feind und nun im Gefängnis … Julio und Leonora hatten sie eingesperrt, womöglich war sie schwanger.
»Ich fühle mich außerstande, eine Entscheidung über ihre Zukunft zu treffen«, sagte er leise. »Das ist eure Sache. Ihr seid ihre Eltern.«
Sie glaubte, in seiner Stimme leisen Tadel zu hören, aber der setzte ihr kaum zu. Viel zu laut echoten seine Worte in ihren Ohren.
Valeria … ein Paraguayer … Gefängnis … eingesperrt …
»Albert …«, stammelte sie hilflos.
Wenn nur der geringste Vorwurf in seinem Gesicht gestanden hätte, dass ihre Tochter Sitte und Anstand vergaß – nicht zuletzt, weil sie sich zu wenig um sie gekümmert hätte, man nun ja sehe, was aus ihr geworden wäre, und sie Valeria gewiss nur vernachlässigt hätte, um ihn zu bestrafen – nun, dann hätte sie ihn angeschrien. Hätte jeder einzelnen Anklage wütend einen Vorwurf entgegengeschleudert und ihn gefragt, wie sie denn einem Kind hätte Liebe geben sollen, wenn sie von ihm nur Vernachlässigung und Missachtung erfuhr.
Doch von Albert kamen keine Vorhaltungen, nur ein Seufzen. Schweigend und tief betroffen standen sie vor Carl-Theodor, und plötzlich fühlte sie, wie Albert Halt suchte und sich auf sie stützte.
Sie wich nicht zurück, war nur unsäglich dankbar, dass ihm das Gleiche aufging wie ihr: Es war sinnlos, sich in gegenseitigen Anschuldigungen zu verlieren, und es war keine Zeit, zu zögern und sich von Bequemlichkeit leiten zu lassen. Stattdessen mussten sie gemeinsam überlegen, wie sie die verlorene Tochter zurückgewinnen konnten.
»Wir brechen sofort nach Montevideo auf«, erklärten sie wie aus einem Mund.
Alberts Hände zitterten, als er Ferdinand und Thomas seine wichtigsten Unterlagen übergab, Anweisungen erteilte, was in der Zeit seiner Abwesenheit zu erledigen war, und sich in Ermahnungen erging, worauf besonders zu achten war.
Um seine Konzentration war es bald geschehen. Nicht nur die Sorge um Valeria machte ihn kopflos, sondern auch die ungewohnte Hektik. Ihm ging auf, dass er seit Jahren nichts mehr spontan entschieden hatte und jede noch so kurze Reise wochen-, wenn nicht sogar monatelang vorbereitet worden war. Nun bekam er Angst vor der
Weitere Kostenlose Bücher