Die Rosen von Montevideo
unserer Kindheit … Ich war für sie da, sie konnte sich auf mich verlassen. Das verstehst du doch, oder? Du musst es verstehen! Bitte, Luis!«
Endlich wich er ihrem Blick nicht länger aus. »Ja, ich verstehe«, sagte er knapp.
Ganz kurz glomm Hoffnung in ihr auf, doch schon seine nächsten Worte machten sie zunichte. Er mochte sie verstehen, aber das bedeutete nicht, dass er ihr auch verzieh. »Ich bin gekommen, um mich von dir zu verabschieden.«
»Verabschieden? Aber …«
Er wandte sich ab, als er erklärte: »Ich bin unehrenhaft aus dem Polizeidienst entlassen und stattdessen als Soldat in den Krieg eingezogen worden.«
Er nickte noch einmal kurz, bevor er sich umdrehte und davonging. Claire stand eine Weile wie erstarrt da … unehrenhaft entlassen … in den Krieg eingezogen …
Das war zu viel zu ertragen, viel zu viel. Ihre Knie wurden weich, fast brach sie zusammen, doch dann biss sie sich erneut auf die Lippen, sammelte alle Kräfte und hastete ihm nach.
»Luis! Luis, ich bitte dich!«, rief sie mit brüchiger Stimme. »Ich weiß, was ich getan habe, war unverzeihlich. Es war …«
Er blieb stehen. »Es war ein Verrat!«, fiel er ihr ins Wort.
Jetzt endlich gab er seine gnadenlose Selbstbeherrschung auf. Sie sah tiefe Verletztheit, auch Verstörtheit, sah einen Mann, der früh seine Familie verloren hatte, dem seine Pflicht seitdem über alles ging, weil er sich daran hatte halten können – und der ausgerechnet ihretwegen daran gescheitert war, sie zu erfüllen. Obwohl sie ihn doch liebte … mehr als alles andere auf der Welt … oder nein, nicht mehr … Valeria liebte sie auch. Aber Valeria war fort, und Luis würde sie nun auch verlieren.
»Ich ertrage es nicht«, flüsterte sie tonlos. »Zu wissen, dass du in den Krieg ziehst, dabei sterben könntest – und dass du mich hasst.«
Flehentlich blickte sie ihn an. Auch wenn sie ihn verloren hatte und einsah, dass er nie ihr Ehemann sein, ihr nie wieder vertrauen würde – so hoffte sie doch auf ein Wort, an das sie sich für den Rest ihres Lebens klammern konnte, ein Wort, das bewies, dass seine Gefühle für sie nicht völlig erkaltet waren.
Doch seine Stimme klang eisig, als er erwiderte: »Ich muss damit leben, dass du mich verraten hast. Und du musst damit leben, dass ich dir das nicht verzeihen kann.«
Sprach’s, wandte sich ab und ging fort. Diesmal lief sie ihm nicht nach. Blitzartig stiegen Bilder in ihr hoch, Erinnerungen an jene Wochen, da sie gemeinsam durch die Steppe geritten waren, Tiere und Pflanzen beobachtet hatten, vor dem Regen geflüchtet waren, sich geküsst hatten.
Und plötzlich wusste sie: Nie wieder würde sie so glücklich sein wie in diesen Augenblicken. Nie wieder das Leben so aufregend und die Zukunft so verheißungsvoll erscheinen.
Als sie sich umdrehte und Espe ins Haus der de la Vegas’ folgte, waren ihre Schritte schwer und ihr Rücken gebeugt, als wäre sie eine uralte Frau, deren Leben vorbei war.
Espe hatte das Kind zu Albert und Rosa gebracht, aber als Claire eintraf, hatten die beiden nicht länger Augen für das Kleine, sondern stürzten auf sie zu: »Wo ist Valeria? Geht es ihr gut? Warum hast du uns bloß nicht gesagt, wo sie sich all die Wochen versteckte?«
Claire warf einen hilfesuchenden Blick zu Espe, aber deren Lippen blieben versiegelt. Die Verantwortung für das Kleine hatte sie ihr gerne abgenommen – nicht aber die Entscheidung, was genau Claire ihnen von Valerias Verbleib berichten würde und ob sie sich deren Bitte fügte, ihren Tod zu verkünden.
Claire fühlte plötzlich unendlichen Überdruss. Die Blicke von Rosa und Albert waren schrecklich besorgt, und in jeder anderen Situation hätte ihr das fast das Herz gebrochen, doch in diesem Augenblick war sie einfach nur wütend: Warum gebärdeten sie sich erst jetzt als gute Eltern, nachdem sie Valeria ihr Leben lang vernachlässigt hatten? Wären sie früher nach Montevideo gekommen, dann wäre der Tochter vielleicht erspart geblieben, die Zwillinge in einem Dreckloch zu gebären und eines zurückzulassen.
Und vor allem wäre es ihr selbst erspart geblieben, Luis zu verraten. Sie hätte ihn nicht für immer verloren, sondern würde ihn bald heiraten, glücklich mit ihm werden und Kinder mit ihm bekommen.
Ihre Wut wuchs und erstreckte sich nicht länger nur auf Albert und Rosa, sondern ebenso auf Valeria. Gewiss, auch diese war in diesem Augenblick wohl entsetzlich unglücklich, hatte sie doch eines ihrer
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