Die Rosen von Montevideo
störrisch an seinen Prinzipien festhält, dachte Rosa.
Tränen traten ihr in die Augen, weil sie nun auch noch den Tadel ihres Vaters zu verkraften hatte, anstatt Mitleid zu erfahren.
Ihr habt mich nie verstanden, ging es ihr durch den Kopf. Nur Albert ist damals für mich da gewesen. Albert …
Das erste Mal seit vielen Jahren war sie voller Dankbarkeit, dass er sie damals von ihrer Familie befreit hatte und dass er jetzt an ihrer Seite stand, wenn auch zutiefst zerstört und fassungslos wie sie.
»Wir müssen überlegen, was wir den Menschen sagen«, dachte Julio indessen laut nach. »Es wäre doch allzu peinlich, wenn die Wahrheit ans Licht gerät.«
»Ist das das Einzige, was dich interessiert?«, fuhr Rosa auf. »Der Ruf der Familie?«
Sie konnte sich nicht länger beherrschen, sondern ging mit erhobenen Händen auf ihn los.
Ehe sie auf ihn einschlagen konnte, riss Albert sie zurück. »Ich bitte dich, Rosa, das hat doch keinen Sinn!«
Das wusste sie selbst, aber es von ihm zu hören, war unerträglich. Das Gefühl von Dankbarkeit erlosch.
»Warum sagst du nichts?«, schrie sie verbittert. »Ist dir denn alles egal?«
»Gewiss nicht. Aber es ist zu spät. Komm … komm bitte mit.«
Er zog sie sanft mit sich. Erst wollte sie sich wehren, aber dann sah sie, wie grau der Kummer sein Gesicht wirken ließ. Wo war der Mann geblieben, der einst hier in Montevideo um sie geworben hatte, etwas steif und ungelenk zwar, aber noch jung, wissbegierig und voller Tatendrang?
Albert schien binnen weniger Stunden um Jahre gealtert zu sein, und sie fragte sich unwillkürlich, ob sie auch so aussah, so verhärmt und trostlos, als hätte sie ihr Leben bereits hinter sich. Und noch etwas anderes las sie in seinem Gesicht, das ihre eigenen Gefühle spiegelte: Schuld.
»Julio hat recht«, bekannte sie tonlos, sobald sie den Raum verlassen hatten und unter sich waren. »Valeria hätte sich nie mit diesem Mann eingelassen, wenn wir sie ordentlich erzogen hätten. Aber das haben wir nicht getan. Wir haben sie nicht ausreichend geliebt, uns nicht ausreichend um sie gekümmert. Wir haben nur an uns selbst gedacht, die eigene Kränkung, den eigenen Schmerz.«
Dem konnte er nichts entgegensetzen. Hilflos zuckte er die Schultern. »Gewiss. Aber wir dürfen uns jetzt nicht selbst zerfleischen. Denk an das Kind … das kleine Mädchen, das Valeria geboren hat. Espe meinte, dass es überleben wird, obwohl es noch so schwach ist.«
Bis jetzt hatte sie es kaum beachtet, sondern war lediglich erleichtert gewesen, dass Espe es versorgt hatte und gerade nach einer Amme suchte. Jetzt schnürte es Rosa die Kehle zu, als sie daran dachte, dass Valeria es nicht groß werden sehen würde.
Sämtlicher Zorn schwand, Tränen stiegen ihr in die Augen.
Hilflos zog Albert sie an sich, und sie wehrte sich nicht gegen seine Berührung, sondern weinte an seiner Brust.
Später saßen sie zusammen an der Wiege der Kleinen. Sie war friedlich eingeschlafen, atmete regelmäßig, und ihr Gesicht war nicht mehr so gelblich. Doch noch immer machte sie, so winzig, wie sie war, einen schrecklich zerbrechlichen Eindruck. Rosa konnte sich nicht erinnern, dass Valeria je so klein und zart gewesen war. Unwillkürlich musste sie an ihre Geburt im Pavillon denken, die sie allein mit Fabiens und Espes Hilfe durchgestanden hatte, aber sie verkniff es sich, diesen Erinnerungen nachzuhängen. Jeder Gedanke an Valeria tat zu weh. Um nach dem Tod ihrer einzigen Tochter weiterzuleben, musste sie nach vorne schauen – musste und wollte sie es auch um ihrer Enkeltochter willen.
Erstmals seit Ewigkeiten konnte sie Albert anblicken, ohne dass der Hass ihre Seele zerfraß. Sie sah nicht nur den steifen Bankier, der sich hinter Zahlen versteckte, sie vernachlässigte und ihr so fremd geworden war, sondern den Vater, der eine Tochter verloren hatte, sich nun bitterste Vorwürfe machte und sich wie sie am Anblick seiner Enkeltochter festhielt. Ehrfurcht stand in seiner Miene.
»Wie sollen wir sie nennen?«, fragte er. »Valeria hat ihr keinen Namen mehr gegeben, ehe sie … ehe sie …«
Seine Stimme brach.
»Ich habe eine Idee«, murmelte Rosa. Sie hatte zunächst an die Namen ihrer beiden Tanten gedacht, aber dann entschieden, dass ihre Enkeltochter so wenig wie möglich mit ihrer Familie und Vergangenheit zu tun haben sollte. »Sie wäre fast gestorben, ja, sie war so gut wie tot, aber dann ist sie doch wieder zurück ins Leben gekehrt. Tabitha hieß jene
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