Die Rosen von Montevideo
ihr Carl-Theodor immer nähergestanden hatte als die eigenen Eltern und weil Valentín es ablehnte, ihr den Namen seiner Mutter oder einer seiner Schwestern zu geben. Er hatte befürchtet, dass deren trauriges Geschick wie ein Fluch auf ihr liegen könnte.
»Denk nicht daran, was wir verlieren«, murmelte Valentín. »Sei dankbar, dass wir so lange friedlich hier leben konnten.«
Das fiel Valeria schwer. Fast beneidete sie ihre Tochter für ihr sonniges Gemüt, dass sie so unbeschwert lachen konnte und noch nicht wusste, was Sorgen waren.
»Es war nicht nur friedlich«, sagte sie leise, »es waren harte Jahre.«
»Weil du so viel arbeiten musstest …«, gab er schuldbewusst zu.
Nein, dachte sie, weil ich um Carlotas Schwesterchen getrauert habe.
Doch das sagte sie nicht laut. Sie hatte Valentín bis zum heutigen Tag verschwiegen, dass sie zwei Kinder geboren und eines zurückgelassen hatte.
»Um mich musst du dir keine Sorgen machen«, erklärte sie energisch. »Du hattest es immer schwerer. Schließlich haben dich stets neue Hiobsbotschaften aus deiner Heimat erreicht.«
Wie so oft tat er ihre Worte schulterzuckend ab. So wie sie ihm den Kummer um ihr verlorenes Kind verschwieg, wollte er sich nicht anmerken lassen, wie sehr ihm der Niedergang seines Landes zusetzte, aber ihr war nicht entgangen, dass er sich nachts oft stundenlang hin und her wälzte oder stöhnend aus dunklen Träumen hochschreckte.
Carlota war noch ein Säugling gewesen, als es im Dezember 1868 zur entscheidenden Schlacht kam. Beide Seiten hatten große Verluste zu erleiden, doch anders als die der Allianz erholte sich Paraguays Streitmacht nicht mehr davon. Der Krieg war verloren, aber Lopez wollte nicht kapitulieren.
Als Carlota Gehen lernte, erfuhren sie, dass Asunción endgültig erobert worden war. Lopez gab immer noch nicht auf, was nichts am Ausgang des Krieges änderte, ihn jedoch unnötig verlängerte.
Carlota lernte, außer Mama und Papa neue Worte zu sagen, während die alliierten Truppen die Reste von Lopez’ Armee durch Paraguay hetzten und sich längst nicht damit begnügten, feindliche Soldaten zu töten, sondern einen schonungslosen Krieg gegen die Zivilbevölkerung führten.
Als Carlota zwei Jahre alt war, war der Krieg endlich zu Ende. Am 1 . März 1870 wurden die Reste des »letzten Aufgebots« des Diktators – mittlerweile nicht mehr als einige hundert Mann – vernichtend geschlagen. Lopez wollte sich nicht gefangen nehmen lassen und wurde ermordet. Seine Getreuen berichteten, dass seine letzten Worte lauteten: »Ich sterbe mit meinem Land.«
Das war gewiss keine Übertreibung. Sosehr Valentín und Valeria nach dem Ende des Krieges hofften, dass damit die schlechten Nachrichten ein Ende fanden, wurde jetzt erst das ganze Ausmaß der Zerstörung deutlich. Auf der Hacienda sprach man triumphierend und voller Schadenfreude darüber, und Valentín war gezwungen, ausdruckslos zu lauschen, doch in den Nächten mehrten sich seine Alpträume.
Mehr als ein Drittel der Bevölkerung Paraguays war tot. Von den Männern hatte überhaupt nur jeder Fünfte überlebt. Paraguay musste die Hälfte seines Gebiets an Argentinien oder Brasilien abtreten, und im verbleibenden Land herrschte bittere Armut. Das Papiergeld war wertlos, der Staatsschatz unauffindbar. Von den zwei Millionen Schlachtvieh waren nur noch fünfzehntausend am Leben – Gleiches galt für die Pferde. Hätte England dem Land kein Darlehen gewährt, es hätten nicht einmal Ochsen gekauft werden können, um die Felder zu pflügen.
Carlota jauchzte erneut, und auch wenn jener liebliche Klang in Valerias Ohren schmerzte, erinnerte er sie doch daran, dass sie die eigene Unbekümmertheit längst verloren hatte, und sie war dankbar, dass dem Kind seine Fröhlichkeit nicht abhandengekommen war und es von all den schrecklichen Nachrichten ebenso wenig mitbekommen hatte wie von den jetzigen Sorgen.
Valentín stellte die Kleine auf den Boden, und prompt rannte sie einem Pampakaninchen hinterher. Wie immer fing sie es nicht, aber als sie außer Hörweite war, konnte Valeria endlich ihren Zukunftsängsten Ausdruck verleihen.
»Was sollen wir jetzt nur tun?«, fragte sie seufzend.
Valentín wirkte müde und ratlos. »Ich weiß es nicht.«
»Vielleicht … vielleicht sollten wir nach Paraguay gehen«, schlug Valeria vor.
»Das ist unmöglich!«, widersprach er hastig. »Die Menschen sind dort nicht nur ärmer als hier, sondern das Land ist fast völlig
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