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Die Rosen von Montevideo

Die Rosen von Montevideo

Titel: Die Rosen von Montevideo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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waren die Schreie – die Schreie einer Frau, hoch und schrill. Die Haustür wurde aufgestoßen, und jemand kam hinausgelaufen, um sich vor dem womöglich einstürzenden Dach in Sicherheit zu bringen.
    Carlota sank auf die Knie, legte sich dann sogar mit dem ganzen Körper auf den Boden. Obwohl sie weit genug vom Haus entfernt war und von keinem der herabfallenden Trümmer getroffen werden konnte, hatte sie Todesangst. Was, wenn die Erde aufging und sie darin versank?
    Ich will nicht sterben, ich will nicht …
    Ihre Gedanken gerieten ins Stocken. Sie hatte den Kopf wieder gehoben und sah, dass sich jene schreiende Frau nicht weit von ihr entfernt duckte. Zunächst hatte sie gedacht, es müsste diese Claire sein, doch nun erkannte sie, dass sie noch nicht sehr alt war, bestenfalls zwanzig Jahre wie sie. Und noch etwas anderes erkannte sie – etwas, was ihre Todesangst vertrieb und sie viel mehr entsetzte als das Erdbeben: Die fremde Frau glich ihr bis aufs Haar. Es war, als würde sie in ihr Spiegelbild sehen. Sie hatte die gleichen dunklen Locken, die etwas schrägen Augen mit den langen Wimpern, das spitze Kinn, die hohe Stirn.
    Sie starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an – und als die Fremde ihren Blick erwiderte, hörte sie auf zu schreien. Carlota schloss die Augen, öffnete sie wieder.
    Es kann doch nicht sein …
    Kurz dachte sie, sie wäre gestorben. Ja, irgendwas hatte sie erschlagen, ehe sie sich in Sicherheit bringen konnte, und ihre Seele blickte ein letztes Mal auf ihren Körper. Aber wenn sie tot wäre, dann würde sie nicht aufrecht stehen, langsam zurückweichen, wieder bedrohlich nahe an das Haus herantreten, wie es diese fremde Frau nun tat. Und wenn sie keinen eigenen Körper mehr hatte, würde sie ihr trotz der Gefahr nicht folgen, als wäre sie durch unsichtbare Fäden mit ihr verbunden.
    Die Frau war nicht minder überrascht. »Wer … wer bist du?«, stammelte sie. Ihr Antlitz. Ihre Stimme. Sie sprach deutsch – eine Sprache, die Carlota dank ihrer Mutter so fließend beherrschte wie das Spanische.
    Carlota wollte ihren Mund öffnen und ihren Namen nennen, doch in diesem Augenblick bebte die Erde, die sich eben noch ein wenig besänftigt hatte, erneut. Sie sah aus den Augenwinkeln etwas Dunkles auf sich herabschießen, und bevor sie sich danach umdrehen konnte, gar ducken, krachte es gegen ihren Kopf.
    Schwärze verschluckte ihr Ebenbild.
     
    Valeria träumte vom Taunus. Sie war noch ein junges Mädchen und ritt durch die Landschaft – die Wälder waren in herbstliches Rot getaucht, die Wiesen wogten im frischen Wind, die Erde roch würzig, und sie fühlte sich frei. Frei und glücklich. Doch plötzlich veränderte sich die Landschaft: Die Grashalme brachen, ihr sattes Grün verfärbte sich zu einem gelblichen Braun, die Bäume verloren ihre Blätter, und die dürren Äste wurden schwarz, als wären sie verbrannt. Der Wind trug Sand und Staub mit sich und ließ ihn auf ihr Gesicht herabregnen. Valeria begriff – sie war nicht länger im Taunus, sondern in Uruguay. Noch konnte sie die Enttäuschung darüber im Zaum halten. Noch konnte sie sich einreden, dass sie sich nach wie vor frei und glücklich fühlte, zumal sie nicht allein war, sondern Valentín an ihrer Seite ritt – Valentín, der noch jung war, nicht gezeichnet vom Krieg, dem Verlust der Heimat, den mühseligen Jahren ihres steten Überlebenskampfes, Valentín, der aus voller Kehle sang. Doch als sie in sein Lied einstimmen wollte, blieben ihr die Töne im Hals stecken. Sie musste husten, rang vergebens nach Luft, glaubte schon zu ersticken. Als sie endlich wieder Atem schöpfen konnte, stellte sie fest, dass nicht länger Valentín neben ihr auf dem Pferd ritt, sondern Pablo. »Denkst du wirklich, du hast gewonnen?«, höhnte der. »Am Ende hast du alles verloren – deine Tochter, Valentíns Liebe, nun auch die zweite Tochter. Du kannst ihr nichts bieten.«
    Valeria fuhr auf. Sie war schweißnass, als wäre sie tatsächlich stundenlang geritten, das Herz pochte ihr bis zum Hals, und die Kehle war staubtrocken. Sie schloss die Augen wieder, wälzte sich hin und her, aber anders als Valentín, der neben ihr schnarchte, fand sie keinen Schlaf.
    Leise stand sie auf und ging ins winzige Zimmer nebenan, wo man nicht aufrecht stehen konnte. Es befand sich nichts weiter darin als eine Kommode und eine Matratze, auf der Carlota schlief. Beim Anblick der schlafenden Tochter wollte sie Ruhe finden, doch als sich ihre

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