Die Rosen von Montevideo
Garten plötzlich vor ihrem Ebenbild stand, vergaß sie auf einen Schlag all ihre Sorgen.
Sie sieht ja aus wie ich, dachte sie ein ums andere Mal, sie gleicht meinem Spiegelbild!
Doch ehe sie sie nach ihrem Namen fragen konnte und was sie hier machte, wurde die fremde Frau von einem herunterfallenden Dachbalken getroffen und sackte zu Boden.
Im ersten Schreck glaubte Tabitha, sie wäre tot, aber dann sah sie, dass sich ihre Brust noch hob und senkte. Zitternd kniete sie neben ihr nieder und wagte es nicht, sich zu rühren, obwohl das Beben längst vorbei war. Wahrscheinlich würde sie jetzt immer noch dort kauern, wenn nicht einer von Claires Nachbarn auf sie aufmerksam geworden wäre und seine Hilfe angeboten hätte.
In der Umgebung waren mehrere Menschen verletzt worden, und der hilfsbereite Mann entschied, sie alle mit seiner Kutsche ins Krankenhaus zu fahren.
Tabitha war seitdem nicht von der Seite ihres verletzten Ebenbilds gewichen. Unmöglich konnte sie sie verlassen, ehe sie die Wahrheit herausgefunden hatte. Doch obwohl es mittlerweile bereits Mittag war, regte sie sich immer noch nicht. Das hieß – ganz so reglos war sie nicht mehr, ihre Lider zitterten leicht.
Bis jetzt hatte Tabitha gezögert, aber nun nahm sie vorsichtig die Hand und drückte sie. Gottlob, sie war warm. Gedankenverloren musterte sie die Hand. Abgesehen davon, dass die Haut gegerbt, die Finger von Nadeln zerstochen und die Nägel rissig waren, glich diese Hand ihrer aufs Haar. Fieberhaft überlegte sie, was ihr die Großeltern über ihre Herkunft erzählt hatten. Ihre Mutter Valeria war demnach bei ihrer Geburt gestorben – von einer Zwillingsschwester war jedoch nie die Rede gewesen. Wer ihr Vater war, war stets ein großes Geheimnis geblieben, das Tabitha nicht hinterfragte, nicht zuletzt, weil ihre Großmutter immer so unglücklich wirkte, sobald die Rede auf ihre tote Mutter kam.
Das Flackern der Lider verstärkte sich, und sie öffneten sich. Kurz war nur Weißes zu sehen, dann blickte Tabitha in strahlend blaue Augen. Sie selbst hatte oft ein Kompliment für ihre Augen bekommen – und den interessanten Kontrast, den sie zum schwarzen Haar darstellten.
Die Fremde starrte sie eine Weile an, räusperte und leckte sich über die trockenen Lippen. Sie wollte sich aufrichten, wurde aber scheinbar von Schmerzen übermannt und fiel zurück auf die Pritsche.
»Wer … wer bist du?«, fragte Tabitha.
Eine Weile schwieg die andere, keuchte dann und presste schließlich heiser einen Namen hervor: »Carlota.«
Tabitha konnte nichts damit anfangen.
»Wasser … so durstig …«, bat die andere.
Tabitha ließ ihre Hand los und erhob sich schnell. Noch mehr Verletzte waren zwischenzeitlich eingeliefert worden. Sie lagen und hockten nicht nur in den Krankensälen dicht beisammen, sondern auch in den Fluren. Es roch nach Schweiß und Blut, Exkrementen und Staub.
Tabitha fand nirgendwo Wasser, doch als sie zurückkehrte, sah Carlota sie mit großen Augen an und schien ihren Durst vergessen zu haben.
»Du siehst ja aus wie ich.«
»Ja.« Wieder senkte sich Schweigen über sie, doch dann fasste sich Tabitha ein Herz und fragte: »Deine Eltern – wie heißen denn deine Eltern?«
»Valeria Gothmann und Valentín Lorente.«
Beim Klang des Namens versetzte es Tabitha einen schmerzhaften Stich. Sie hatte nie um die Mutter getrauert, die sie nicht kannte, und es hatte sie auch nie sonderlich belastet, dass um ihren Vater ein Geheimnis gemacht wurde, aber nun seinen Namen zu hören, gab ihr das Gefühl, etwas Unwiederbringliches versäumt zu haben.
»Ich muss ihnen sagen, was passiert ist«, meinte Carlota, »gewiss machen sie sich schreckliche Sorgen.«
»Sie leben noch?«
Tabitha blickte sie fassungslos an. Konnte es möglich sein, dass sie ganz plötzlich nicht nur eine Schwester, sondern auch Eltern hatte?
»Aber ja doch«, antwortete Carlota schnell. »Ich verstehe nicht … Warum lebst du nicht bei uns? Wer bist du überhaupt?«
»Ich bin Tabitha – und bei Rosa und Albert Gothmann in der Nähe von Frankfurt aufgewachsen. Das sind meine … unsere Großeltern. Hier in Montevideo verbringe ich jeden Sommer – das heißt, hier ist ja Winter – bei den de la Vegas’. Ich bin über Großmutter mit ihnen verwandt.«
Der Name schien Carlota nicht fremd zu sein, denn ihr Blick wurde plötzlich sehnsüchtig. Sie musterte Tabitha erneut und hob schließlich ihre Hand, um über deren Nachthemd zu streichen. Dieses war
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