Die Rosen von Montevideo
kultivierte offenbar Feigen, Pfirsiche, Äpfel, Birnen und Weinreben – glichen gedrungenen Gestalten, die nach ihr griffen. Sie war überrascht, auch einen Orangenbaum zu entdecken: Vater behauptete doch stets, sie gediehen hier nicht gut, und ihre Früchte wären nicht besonders wohlschmeckend – ganz anders als in Paraguay. Stets hatte Sehnsucht in seiner Stimme mitgeschwungen, und dass ihm hierzulande die Orangen nicht schmeckten, war ihr immer wie ein Zeichen erschienen, dass er hier nicht heimisch werden konnte.
Nun, auf gute Orangen wollte Carlota gern verzichten, wenn sie nur schöne Kleider, elegante Hüte, spitz zulaufende Schuhe mit kleinen Absätzen tragen durfte wie die feinen Damen! Ob man sich hier aber so kleidete?
Claire Gothmann trug, wenn sie hier im Garten saß, wohl eher einen praktischen Sombrero als einen Hut mit Spitze und Seide. Und wie sollte sie sich dieser Claire überhaupt vorstellen? Vor allem, wann?
Wenn sie nicht auf eine unausgeschlafene, schlechtgelaunte Frau treffen wollte, war es ratsam, sie nicht mitten in der Nacht aus dem Bett zu reißen, sondern lieber bis zum nächsten Morgen zu warten, auch wenn die Aussicht, hier im Finstern zu warten, wenig verheißungsvoll war. Zögerlich öffnete Carlota das Tor zum Garten, das Gott sei Dank offen stand, und ging auf das Haus zu, in dessen Nähe sie sich ein wenig sicherer fühlte.
Auch wenn in der Nacht ihre Farbenpracht nicht sichtbar war, verbreiteten die Blumen einen durchdringenden Duft. Neben dem Haus standen einige Töpfe mit Nelken, nicht weit vom Efeu gab es ein paar Rosenstöcke, und überdies lag ein exotischer Geruch in der Luft, den Carlota nicht deuten konnte – vielleicht war es eine der seltenen Jasmin-Arten, die, wie sie einmal in einer Zeitung gelesen hatte, bei den Reichen so beliebt waren. Und selbst wenn es ein einfacheres Gewächs wäre – allein, dass so üppige Blumen hier wuchsen, war ein Beweis für Claires Wohlstand, denn arme Leute bauten ausschließlich Gemüse an.
Sie entdeckte neben dem Haus eine Bank und setzte sich darauf. Erst jetzt merkte sie, dass sie am ganzen Leib zitterte. Obwohl es hier milder war als in Europa, wie ihre Mutter so oft beteuerte, war es schließlich mitten im Winter.
Carlota rieb ihre Hände aneinander, bis sie glühten, legte den Kopf in den Nacken und starrte in den Himmel. Noch ließ sich keinerlei Anzeichen von Morgengrauen ausmachen, gewiss musste sie noch viele Stunden warten. Einerseits machte sie das ungeduldig, andererseits konnte sie sich so in aller Ruhe überlegen, wie sie bei Claire vorstellig werden und erreichen sollte, dass sie sie bei sich aufnahm.
Eine Weile legte sie sich ein paar passende Sätze zurecht, doch alsbald ermüdeten ihre Gedanken. Sie schloss die Augen und war nach dem langen Fußmarsch so erschöpft, dass sie trotz der Kälte einnickte.
Wenig später wurde sie von Hundegebell geweckt. Sie zuckte zusammen und befürchtete, dass die Köter schon auf sie losstürmten und gleich über sie herfallen würden. Doch als sie sich panisch umsah, erkannte sie, dass das Gekläff vom Nachbarhaus kam, wo die Hunde offenbar in einem Zwinger eingesperrt waren. Doch warum bellten sie so laut? War es ihr Geruch, den sie verspätet wahrgenommen hatten und der sie in diesen Aufruhr versetzte?
Sie sprang von der Bank – und da spürte sie, was die Hunde in Unruhe versetzte. Die Erde schien … zu ruckeln. Ja, sie konnte es nicht anders beschreiben. Es fühlte sich an, als wäre sie aus dem Takt geraten. Und es blieb nicht dabei. Aus dem Ruckeln wurde ein immer stärkeres Vibrieren, schließlich ein Beben, das ihr durch Mark und Bein ging. Sie hörte ein Klirren und Poltern, das Knacken von Holz und das Splittern von Glas. Geschrei tönte aus den umliegenden Häusern, lauter noch als das Gebell.
Kurz stand sie wie erstarrt da, dann rannte sie vom Haus fort. Sie lief direkt ins Blumenbeet und zertrampelte die sorgsam angelegten Pflanzen, aber das war ihr in diesem Augenblick egal. Instinktiv wusste sie: Sie musste sich vor den Hauswänden in Sicherheit bringen. Zwar hatte sie noch nie ein Erdbeben erlebt, aber ihre Mutter hatte ihr einmal erzählt, dass sie auf dem südamerikanischen Kontinent keine Seltenheit waren, wenngleich Montevideo davon verschont geblieben war – zumindest bis jetzt.
Sie duckte sich, fühlte das Rumoren der Erde mit jeder Faser ihres Körpers, roch Staub und hörte dicht neben ihrem Ohr ein Poltern. Noch lauter als dieses
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