Die Rosen von Montevideo
Augen ans matte Licht gewöhnt hatten, erkannte sie, dass die Matratze leer war.
»Carlota?«
Keine Antwort.
Mit wachsender Sorge ging Valeria nach unten, doch auch die Küche war verwaist. Der Schweiß auf ihrer Stirn war erkaltet, aber ihr Herz pochte noch schneller. Panik stieg in ihr hoch, und sie wollte den Namen ihrer Tochter ein zweites Mal rufen, als es begann: Die Erde bebte unter ihren Füßen, Geschirr schepperte, ein Blechnapf kullerte zu Boden, die Türen knirschten ebenso wie das Gebälk. Es fühlte sich so unwirklich an, dass sie kurz dachte, sie würde immer noch träumen, doch das Beben ließ nicht nach, sondern wurde stärker. Sie wankte, suchte etwas, woran sie sich festhalten konnte, griff jedoch ins Leere. Instinktiv ging sie auf die Knie und barg den Kopf in ihren Armen. Sie hörte Schritte neben sich, Valentín kam offenbar nach unten getaumelt, aber sie wagte es nicht, den Kopf zu heben und ihn anzusehen.
»Was ist das?«, rief sie gegen das Knirschen und Rumoren an.
»Ein Erdbeben! Wir müssen sofort raus hier …«
»Aber Carlota … Carlota ist fort …«
»Vielleicht ist sie ins Freie geflohen!«
»Nein, sie ist schon vorher …«
Ehe sie ihren Satz zu Ende bringen konnte, hatte Valentín sie gepackt und hochgerissen. Sie wehrte sich, doch er war stärker und zerrte sie ins Freie. Hühner gackerten, Hunde kläfften, die Nachbarn, die ebenfalls nach draußen flohen, schrien durcheinander.
»Habt ihr Carlota gesehen?«
Das Beben schien kurz nachzulassen, setzte dann aber mit ganzer Wucht wieder ein. Valeria sah eines der Nachbarhäuser einstürzen, als wäre es aus Papier gebaut, und in dem Getöse ging sämtliches Geschrei unter, auch ihr verzweifelter Ruf: »Wir müssen Carlota suchen!«
Valentín zog sie von den herunterfallenden Trümmern weg. »Das ist jetzt unmöglich!«, schrie er.
Abermals wehrte sie sich gegen seinen Griff. »Ich kann doch nicht …«
Dicht neben ihr fiel etwas Schweres, Dunkles zu Boden und zersprang in tausend Scherben.
Ich kann doch nicht zulassen, auch noch meine zweite Tochter zu verlieren, hätte sie beinahe gesagt und das Geheimnis, dass Carlota noch eine Zwillingsschwester hatte, leichtfertig offenbart.
Aber im Lärm ging weiterhin jedes Wort unter. Sie versuchte nicht länger, sich verständlich zu machen, sondern trat so lange nach Valentín, bis er sie endlich freigab.
»Valeria!«
Sie kam nicht weit. Sie stolperte über irgendetwas, das auf dem Boden lag, und prallte mit dem Gesicht voran auf die Erde. Sie dachte, der Schmerz könnte nicht schlimmer werden, als plötzlich etwas auf sie fiel und ihren Kopf zu zertrümmern schien. Schützend hob sie ihre Hände. Doch ehe sie die Wunde ertastet hatte, ließ der Schmerz nach, und sie fühlte gar nichts mehr.
Tabitha zögerte, die Hand der Frau zu nehmen, die ihr so erschreckend ähnlich sah. Der Verband um ihren Kopf verbarg ihre dunklen Haare – dennoch war es unübersehbar, wie sehr sie sich glichen. Wie Schwestern, nein, wie Zwillingsschwestern! Es konnte gar nicht anders sein: Gewiss war sie mit dieser Frau eng verwandt! Warum aber wusste sie nichts von ihr?
Derart in ihren Anblick versunken, war sie taub für das Stöhnen und die Schmerzensrufe ringsum. Das Krankenhaus war nach dem Erdbeben völlig überfüllt. Überall waren Ärzte und Schwestern im Einsatz und hetzten von Pritsche zu Pritsche. Die meisten Verletzten, so auch ihr fremdes Ebenbild, wurden nur notdürftig behandelt.
»Im besten Fall hat sie eine leichte Gehirnerschütterung und kommt von selbst zu sich«, hatte vorhin einer der Ärzte knapp erklärt. »Im schlimmsten Fall ist der Schädel gebrochen, und sie stirbt daran. Dagegen können wir ohnehin nichts tun.«
Tabitha war betroffen über so viel Kälte, aber viel zu verwirrt, um sich zu beschweren.
Die letzten Stunden erschienen ihr wie ein einziger Alptraum. Ewigkeiten schien es her zu sein, seit sie gestern Abend das Haus der de la Vegas’ verlassen hatte, um zu Claire zu fahren. Leider hatte nur die Haushälterin geöffnet und ihr mitgeteilt, dass Claire auswärts nächtigte, hatte sie danach jedoch zumindest hineingebeten, da sie sie kannte, und ein Zimmer für sie bereitgemacht.
Mitten in der Nacht war sie von dem Beben geweckt worden und voller Panik aus dem Haus gerannt. Rückblickend schalt sie sich dafür, dass sie sich kein einziges Mal umgedreht hatte, um zu sehen, ob auch den anderen Hausbewohnern die Flucht geglückt war. Als sie im
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