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Die Rosen von Montevideo

Die Rosen von Montevideo

Titel: Die Rosen von Montevideo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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tiefen Schürfwunde perlte Blut, anderen stachen die weißen Knochen spitz aus dem Fleisch. Wieder andere lagen, von Staub bedeckt, ohnmächtig auf einer Liege. Die Schmerzenslaute, die von den Wänden hallten, waren schwer zu ertragen, aber Claire war dankbar, noch keine Toten mit leeren Blicken und verrenkten Gliedern gesehen zu haben. Je länger sie sich an den vielen Menschen vorbeidrängte, die hier wie sie nach Angehörigen suchten, desto größer wurde ihre Sehnsucht nach der beschaulichen Quinta.
    Sie unterdrückte sie jedoch und ging beharrlich weiter. Ob hier irgendwer Tabitha gesehen hatte?
    Sie sah sich nach jemandem um, den sie fragen könnte, doch ein jeder war auf sein eigenes Leid konzentriert und blind für die Nöte anderer. Nun, vielleicht konnte ihr der Polizist dort hinten weiterhelfen.
    Sie kämpfte sich an einem Dutzend Pritschen vorbei.
    »Entschuldigen Sie, ich suche meine Nichte, und …«
    Sie brach ab. Ein fassungsloser Schrei entfuhr ihr.
    Jahrelang hatte ihr der Anblick eines Mannes in Uniform einen Stich versetzt, und insgeheim hatte sie immer erwartet, Luis zu begegnen. Ausgerechnet heute hatte sie nicht mit einem vertrauten Gesicht gerechnet – doch es war tatsächlich er, der ihr da leibhaftig gegenüberstand und sie so entgeistert anblickte wie sie ihn.
     
    Claires Hand fuhr zum Mund, und ihre Knie wurden so weich, dass sie sich kaum auf ihren Beinen halten konnte. Alles, was ringsherum geschah, wurde bedeutungslos. Sie hörte die Verwundeten nicht länger stöhnen, wurde taub für die hektischen Schritte der Ärzte. Irgendjemand rammte ihr seinen Ellbogen in die Seite, doch sie spürte es gar nicht.
    Auch Luis schien deutlich erschüttert. Wie bei ihr hatte das Alter Spuren hinterlassen: Sein Haar war nicht mehr glänzend, sondern aschblond und weiß durchsetzt, der Bart war lichter geworden und die Haut ledrig. Doch er hielt seinen Rücken immer noch so stolz aufrecht wie einst, und nachdem seine Lippen kurz gebebt hatten, als er sie erkannte, kniff er sie nun zusammen, und der Zug um den Mund wurde streng.
    »Du lebst …«, stammelte sie.
    Heißes Glücksgefühl durchströmte sie. Jahrelang hatte sie befürchtet, er wäre gefallen. Nach dem Krieg waren so viele Verlustlisten in Umlauf gewesen, denn auch wenn Uruguay zu den siegreichen Staaten gehörte, hatte es einen hohen Preis zahlen müssen. Sie hatte seinen Namen zwar nie auf diesen Listen gefunden, aber doch erschüttert festgestellt, dass von vielen Einheiten kaum Überlebende zurückkehrten. Manchmal träumte sie von ihm, wie er schwer verletzt auf dem Schlachtfeld lag und niemand ihm half. Wenn sie dann erwachte, war sie sich sicher, dass er tot war – und sie daran die Schuld trug.
    Sie hatte nicht gewagt, offiziell zu trauern und Schwarz zu tragen – schließlich war sie keine Witwe wie so viele andere, die im Übrigen über Jahrzehnte vergebens darauf warteten, Renten zu bekommen und für den Verlust entschädigt zu werden. Die Regierung hatte schlichtweg kein Geld dafür, denn sie musste ausländische Kredite zurückzahlen, mit denen die Waffen finanziert worden waren, und anders als Argentinien, das sich die Regionen Chaco und Misiones sicherte, und Brasilien, das ein riesiges Gebiet im Westen Paraguays besetzte, hatte Uruguay kein Stückchen vom eroberten Land abbekommen. Die zu erwartenden Reparationszahlungen aus Paraguay wiederum waren ausgeblieben, weil die Wirtschaft des Landes am Boden lag.
    Wann immer darüber gesprochen wurde, stöhnte man klagend: »Dieser verfluchte Krieg!« Und Claire, die durch diesen Krieg ihre beste Freundin und den Geliebten verloren hatte, maßte sich zwar nicht an, den Verlust laut zu benennen, nickte aber stets düster.
    Auch jetzt war ihr Glücksgefühl nicht von Dauer. Je länger sie Luis betrachtete, desto schmerzhafter wurde sie an all die Versäumnisse in ihrem Leben gemahnt – daran, dass sie nicht an der Seite ihres Liebsten lebte, sondern in Einsamkeit, und dass sie keine Kinder geboren hatte, sondern ihr Schoß vertrocknet war.
    »Claire …« Seine Stimme klang belegt, rasch räusperte er sich. »Was machst du hier? Ich hatte erwartet, du wärst damals nach Deutschland zurückgekehrt.«
    Sie leckte sich über die trockenen Lippen. »Nein«, murmelte sie, »nein, ich wollte das Land nicht verlassen …« Sie sagte nicht laut, was sie eigentlich dachte: Ich wollte an dem Ort bleiben, wo ich kurz die glücklichste Zeit meines Lebens verbracht habe. Wo ich mich

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