Die Rosen von Montevideo
Treiben gemischt, doch je älter sie wurde, desto länger währten die Phasen vollständigen Rückzugs, und jedes Mal, wenn sie nach Wochen oder gar Monaten ihre Quinta dennoch verließ, erschien ihr die Stadt lauter und staubiger und die Erinnerungen an einst noch quälender. Wenn ihr Vater in der Stadt geweilt hatte und im Haus der de la Vegas’ untergekommen war, hatte sie ihn natürlich gerne besucht, aber Carl-Theodor hatte Hamburg immer seltener verlassen, dort das Eheleben mit Susanna und das helle, geräumige Haus genossen, in das er mit ihr gezogen war, und war vor fünf Jahren gestorben. Der Tod war unerwartet gekommen und hatte ihn im Schlaf ereilt, und obwohl Claire ihn betrauerte, war sie zugleich dankbar für dieses leise, gnädige Hinscheiden und dass er in den Jahren davor sein Glück gefunden hatte. Letztlich war sein Tod kein sonderlich großer Einschnitt für sie – dazu hatte sie ihn, vor allem nach seiner Eheschließung mit Susanna, die sie kaum kannte, viel zu selten gesehen. Ihr war zwar etwas mulmig zumute, als ihr bewusst wurde, dass damit ihre letzte Verbindung zu Europa gekappt schien, hatte sie doch ihrem Onkel Albert und dessen Frau Rosa nie sonderlich nahegestanden, aber nicht einmal ein Besuch an seinem Grab war ihr Anlass genug, die weite Reise auf sich zu nehmen. Vielleicht war es Bequemlichkeit, vielleicht Furcht vor zu starken Gefühlen, vielleicht die Einsicht des Alters, dass einfache Dinge mehr Zufriedenheit schenken können als jedes noch so aufregende Abenteuer – in jedem Fall brachte ihr das einfache und gleichförmige Leben auf dem Land einen gewissen Seelenfrieden.
Ausgerechnet in der Nacht des Erdbebens war sie allerdings nicht zu Hause, sondern hatte die Oper besucht und in einem Hotel genächtigt. Dieses war gottlob unversehrt geblieben, und als sie am Morgen besorgt nach Hause zurückkehrte, stellte sie erleichtert fest, dass auch die Quinta bis auf kleine Schäden intakt geblieben war. Am liebsten hätte sie sich sofort zurückgezogen, doch dann sah sie sich unverhofft einer aufgeregten Isabella de la Vegas gegenüber, die erklärte, Tabitha sei gestern zu ihr aufgebrochen. Die Haushälterin bestätigte, dass sie sie eingelassen, ihr eine Mahlzeit gekocht und ein Zimmer zugewiesen hatte, doch dieses war nun leer. Auch nach längerer Suche fehlte von Tabitha jede Spur.
»Mehrere Nachbarn wurden verletzt und ins Krankenhaus gebracht!«, rief Isabella voller Sorge. »Vielleicht war Tabitha darunter!«
Claire unterdrückte ein Seufzen und schämte sich, dass die Sorge um die Nichte kaum das Unbehagen besiegen konnte, erneut in die Stadt zu fahren. Doch dann schüttelte sie ihre Trägheit ab.
»Ich werde ins Krankenhaus fahren – und du wartest bei euch, ob sie dort auftaucht«, befahl sie Isabella.
»Und was soll ich meinen Eltern sagen?«
»Am besten noch nichts«, entschied Claire nach kurzem Nachdenken. »Sie werden sich noch früh genug darüber ärgern, dass Tabitha einfach das Haus verlassen und zu mir gekommen ist.«
Als sie am Morgen hinaus aufs Land gefahren war, hatte Claire den Blick aus dem Kutschenfenster gemieden. Nun hielt sie Ausschau nach vertrauten Gesichtern und war bestürzt über das Ausmaß der Zerstörung. Die Stadt war ihr in den letzten Jahren schon fremd geworden, nun hatte sie mit all den verwüsteten Häusern nichts mehr mit jenem Ort gemein, an dem sie einst so glücklich, später so schrecklich verzweifelt gewesen war.
Die Kutsche musste wie am Morgen immer wieder anhalten, weil Trümmer den Weg versperrten und erst unter Mühen fortgeschafft werden mussten, und jedes Mal, wenn die Fahrt stockte, ließ Claire sich zurücksinken und schickte ein Stoßgebet zum Himmel: O bitte, lass Tabitha nichts passiert sein!
Sie stand dem Mädchen nicht besonders nahe, dazu sah sie es zu selten und verhielt sich – bei den wenigen Anlässen – so distanziert wie zu allen Menschen. Doch anders als beim Rest der Welt war es nicht Gleichgültigkeit, die sie zu viel Nähe scheuen ließ, sondern das schlechte Gewissen. Nicht nur dass sie alle Welt hatte glauben machen, Valeria wäre tot – außerdem hatte diese ihr einst ihre Tochter anvertraut, doch anstatt die Verantwortung für die Kleine zu übernehmen, war sie froh gewesen, sie an Rosa und Albert abgeben zu können. Dass sie nun – aus welchen Gründen auch immer – bei ihr Unterschlupf gesucht, aber sie ihr nicht genügend Schutz hatte gewähren können, machte ihr umso mehr zu
Weitere Kostenlose Bücher