Die Rosen von Montevideo
nach einer Ausrede. »Entschuldige, Tante Claire, aber ich habe gerade überlegt, ob das Haus der de la Vegas’ wohl auch vom Erdbeben betroffen wurde.«
»Isabella erwähnte nichts davon. Aber sie macht sich schreckliche Sorgen um dich. Leonora und Julio gewiss auch.«
Nach allem, was ihr Tabitha über den Onkel und die Tante erzählt hatte, war sich Carlota dessen nicht so sicher, aber sie nickte überzeugt.
»Bald sind wir ja da, dann kann ich sie beruhigen.«
Carlota fiel es schwer, sich ein Lächeln zu verkneifen. Ja, bald würde sie das prächtige Stadthaus betreten, ein Bad nehmen, feine Kleidung anziehen, etwas Köstliches zu essen bekommen – und wenn alles nach Plan verlief – heute Abend als Tabitha Gothmann de la Vegas einschlafen.
Die Umsetzung ihres Plans glückte weiterhin, die Anspannung blieb. Carlota konnte ihre Nervosität kaum unterdrücken, als sie das erste Mal Isabella gegenübertrat. Immerhin erkannte sie sie nach Tabithas Erzählungen sofort und schaffte es, ihr freundlich zuzulächeln. Isabella dagegen betrachtete sie kurz prüfend.
»Tabitha?«
Carlota packte die Angst. Offenbar hatte Tabitha in den letzten Wochen viel Zeit mit Isabella verbracht, und anders als Claire fiel ihr womöglich viel deutlicher auf, dass ihre Züge härter, ihre Gestalt dürrer und ihr Haar strähniger als das von Tabitha war.
Doch dann sah sie, dass Isabellas Blick an ihrer Kopfverletzung hängengeblieben war. »Tut es noch sehr weh?«
Kurz lag es Carlota auf der Zunge, zu widersprechen, damit sich die andere keine Sorgen machte, aber dann sagte sie schnell: »Ja, ich habe schreckliche Kopfschmerzen. Ich ziehe mich besser zurück und ruhe mich aus.«
Isabella nickte verständnisvoll, und auf diese Weise entging sie auch einer Begegnung mit Julio und Leonora.
Die nächsten Tage verbrachte sie in Tabithas schönem Zimmer, genoss das weiche Bett, probierte sämtliche ihrer Kleider an und nähte das eine oder andere etwas enger.
Alsbald aber wurde ihr langweilig – und obendrein saß ihr die Angst im Nacken, hier in Montevideo bald aufzufliegen.
Beim ersten gemeinsamen Abendessen mit Leonora und Julio, die sich nicht sonderlich für sie zu interessieren schienen, erklärte sie darum, sie wolle gerne so bald wie möglich nach Deutschland zurückkehren. Nach dem Erdbeben erscheine ihr die Stadt als so trist, überdies fühle sie sich nach ihrer Kopfverletzung auch nicht gut.
Leonora war so ins Essen vertieft, dass sie die Nichte bislang kaum gemustert hatte, und tat es auch jetzt nicht. »Eine hervorragende Idee!«, verkündete sie knapp zwischen zwei Bissen.
Julio sagte gar nichts – offenbar war er bei den Familienmahlzeiten stets sehr wortkarg.
Nur Isabella war sichtlich besorgt. »Ist die weite Reise nicht zu anstrengend? Gerade, wenn du noch Schmerzen hast, solltest du besser warten, bis du vollkommen genesen bist.«
»Ach was«, warf Leonora ein. »Das wird sie wohl selbst am besten wissen.«
Carlota senkte ihren Blick. »Hier erinnert mich alles an José«, sagte sie leise.
Leonoras Blick wurde abfällig, weil sie es wagte, den Stallburschen zu erwähnen, der von Isabella jedoch mitleidig. »Vielleicht hast du recht, und du bist fern von hier besser aufgehoben …« Ihre Stimme bekam einen sehnsüchtigen Klang. Wahrscheinlich hätte sie selbst gerne öfter das Haus, ja, die Stadt verlassen, hatte aber keine Möglichkeit dazu.
Carlota fühlte sich schäbig, weil Isabella so gar keinen Neid zeigte – nur dieses von Herzen kommende Mitgefühl, das sie, im Grunde nichts weiter als eine Betrügerin, nicht verdiente. Aber sie wusste: Wenn sie weiterhin alle Annehmlichkeiten des Lebens in Wohlstand genießen wollte, durfte sie ihren Skrupeln nicht nachgeben und musste sich ganz und gar auf sich selbst konzentrieren, nicht zuletzt, weil auch in Frankfurt viele Gefahren drohten. Immerhin: Albert und Rosa würden sich nicht wundern, dass sie sich stark verändert hatte, war sie doch wochenlang von ihrem Zuhause fort gewesen und obendrein Opfer des Erdbebens geworden. Und falls Tabitha ein Fehler unterlief und ihre wahre Identität offenbarte, würde es dort viel länger dauern als hier, bis sich die Nachricht verbreitet hatte.
34. Kapitel
T abitha wäre am liebsten so lange wie möglich im Krankenhaus geblieben. Als sie noch mit Carlota beisammen war, erschien ihr der Rollentausch als hervorragender Plan, der alles zum Guten wenden würde. Sobald diese aber mit Tante Claire
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