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Die Rosen von Montevideo

Die Rosen von Montevideo

Titel: Die Rosen von Montevideo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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schaffen.
    Wo steckte sie nur?
    Die Kutsche fuhr weiter, kam an den Wohnsiedlungen der Mittelklasse vorbei, wo ein Haus dem anderen glich: Sie alle wurden von Maklern teuer vermietet, nachdem sie die Baugrundstücke gekauft, sie in Parzellen unterteilt und sämtliche Gebäude im einheitlichen Stil errichtet hatten. Viel bunter und lebhafter als dieses war das nächste Viertel, wo sich vor allem Einwanderer aus Spanien und Italien niedergelassen hatten. Die Menschen dort klagten lautstark und händeringend über die verheerenden Folgen des Bebens, und anstatt systematisch anzupacken, vergrößerten sie das Chaos.
    Schließlich passierte sie die Ciudad Nueva, die Claire kaum wiedererkannte. In den letzten Jahren war dort unglaublich viel gebaut worden, meist große Gebäude nach europäischem Vorbild. Als Kind war Claire einmal mit ihrer Mutter in Paris gewesen, und auch wenn Montevideo unmöglich mit dieser Stadt mithalten konnte, ließ sich erkennen, dass die ansehnlichen Regierungs- und Verwaltungsgebäude, die breiten Straßen, Museen, Parks und Theater denen der französischen Hauptstadt gleichen sollten. Aufgrund der stabilen Bauweise hatte hier das Erdbeben kaum Schaden angerichtet.
    Wie ungerecht die Welt ist, dachte Claire. Arme trifft ein Unglück wie dieses noch mehr als Reiche.
    Auch wenn sie sich von der Stadt meist fernhielt – für Politik interessierte sie sich immer noch ebenso brennend wie für Naturwissenschaften. Regelmäßig las sie Zeitungen und hatte verfolgt, dass die soziale Kluft zwar etwas geringer geworden war und die politische Macht nicht mehr nur in den Händen regionaler Gruppen lag, aber dass es dennoch große Unterschiede zwischen dem wohlhabenden Großgrundbesitzer und dem einfachen Einwanderer, der von diesem regelrecht ausgebeutet wurde, gab. Nun gut, sie war die Letzte, die darüber Beschwerde führen konnte, lebte sie doch selbst recht gut vom Vermögen des Vaters, das dieser angehäuft hatte. So dankbar sie für die Annehmlichkeiten war, die sie sich deshalb leisten konnte – manchmal schämte sie sich, dass ausgerechnet ihr so viel Reichtum zuteilwurde, obwohl es nicht einmal jemanden gab, dem sie ihn vererben konnte.
    Sie schüttelte den aufkommenden Trübsinn energisch ab. Tabitha, wo war nur Tabitha?
    Wieder blieb die Kutsche ruckartig stehen, und Claudio riss die Tür auf. Er war ein Einwanderer aus Italien, hatte zunächst als Gärtner bei ihr gearbeitet, versorgte schließlich aber – da ihm Tiere mehr lagen als Pflanzen – ihre Pferde. »Ich fürchte, es ist kein Durchkommen mehr. Sie werden zu Fuß gehen müssen, Signorina …«
    Er nannte sie immer so, obwohl sie diesen Herbst vierzig Jahre alt werden würde.
    Als Claire ausstieg, rümpfte sie die Nase. »Was stinkt hier so entsetzlich?«
    »Scheinbar ist die Kanalisation der Altstadt zerstört worden. Und der Strom ist auch ausgefallen.«
    Sie blickte sich um, konnte sich jedoch nicht recht orientieren. Die meisten Häuser waren unbeschadet geblieben, bei anderen war das Dach eingestürzt, bei einigen wenigen auch die Wände. Die Bewohner versuchten eben, ihren Hausrat zu retten. Vieles davon war zu Bruch gegangen, wie die Scherben vor ihren Füßen zeugten.
    »Passen Sie auf, Signorina!«, rief Claudio besorgt.
    Claire stieg über das kaputte Geschirr hinweg. Der Gestank verstärkte sich – ohne fließendes Wasser würde es Ewigkeiten dauern, all den Schmutz zu beseitigen. In den armen Siedlungen musste man allerdings ohnehin auf diese Errungenschaft verzichten.
    Unwillkürlich musste Claire an Valeria denken. Seit Jahren hatte sie sämtliche Erinnerungen unterdrückt – denn sie waren fast so schmerzhaft wie die an Luis –, aber nun fragte sie sich, wie sie das Erdbeben überstanden hatte und ob sie so armselig lebte wie so viele hier.
    »Dort hinten ist das Krankenhaus«, sagte Claudio. »Am besten, Sie gehen allein weiter, und ich bleibe bei der Kutsche, damit das Pferd nicht gestohlen wird.«
    Claire lächelte flüchtig. Claudios Sorge galt natürlich den Tieren ungleich mehr als den Menschen.
    Als sie beim Krankenhaus ankam, erwarteten sie Säle und Gänge voller Menschen. Das Gebäude war zwar intakt geblieben, aber man hatte viele Schwer- oder Leichtverletzte hierhergeschafft. Viele Schwestern und Ärzte liefen hektisch auf und ab. Claire scheute sich, sie zu stören und nach einer jungen Frau zu fragen, und ging stattdessen von Saal zu Saal, um selbst nach Tabitha Ausschau zu halten. Aus mancher

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