Die Rosen von Montevideo
Kleidung kündete vom Erdbeben, sondern auch eine Kopfverletzung.
Jetzt endlich konnte sich Claire aus ihrer Starre lösen, auf sie zueilen und sie umarmen. »Mein Gott, Tabitha, ich habe mir solche Sorgen gemacht! Wenn ich nur gewusst hätte, dass du zu mir wolltest, dann wäre ich nie und nimmer in die Oper gegangen.«
Tabitha starrte sie fragend an, so verwirrt auch, als würde sie aus einem dunklen Traum erwachen. »Tante Claire?« Es klang eher nach einer Frage statt nach einer Feststellung, so, als wäre sie sich nicht sicher, wen sie da vor sich hatte.
Claires Besorgnis wuchs wieder. War die Kopfverletzung schlimmer, als sie auf den ersten Blick vermutet hatte? Und hatte sie nicht schon einmal gelesen, dass man nach einem Schock sein Gedächtnis verlieren konnte?
»Tabitha, was ist mit dir?«, fragte sie. »Du siehst so … anders aus. Und du wirkst so …«
Sie fand kein passendes Wort, um ihrem Unbehagen Ausdruck zu verleihen, doch da lächelte Tabitha schon. »Keine Angst, es ist nicht weiter schlimm. Es geschah nur alles so schnell … Es war so beängstigend, und ich glaube, ich bin immer noch nicht ganz bei mir.«
Claire nickte verständnisvoll. »Isabella meint, du hättest dich mit Tante Leonora gestritten und darum Unterschlupf bei mir gesucht. Was ist denn passiert?«
Tabitha senkte den Blick. »Nach dem schrecklichen Erdbeben ist das nicht mehr so wichtig. Ich will einfach nur nach Hause.«
»Natürlich«, murmelte Claire geistesabwesend. »Man sagte mir übrigens, dass noch ein zweites Mädchen hier wäre.«
»Das muss ein Missverständnis sein.«
Tabitha erhob sich, und trotz ihrer Kopfverletzung zeigte sie kein Anzeichen von Schwindel, nur Müdigkeit.
»Ich bitte dich, du kannst doch nicht einfach aufstehen, ehe ein Arzt …«
»O doch, ich kann!«, erklärte sie ungewöhnlich heftig. »Es ist auch nur ein Kratzer, den ich abbekommen habe, wirklich!«
Claire streckte die Hand aus, um sie zu stützen, und dabei fiel ihr einmal mehr auf, dass Tabitha deutlich abgemagert war. Vielleicht hatte das mit dem Streit mit Leonora zu tun.
»Ich werde Claudio Bescheid sagen, dann bringen wir dich nach Hause.«
»Das ist gut …«
Tabitha befreite sich aus ihrem Griff und ging mit gesenktem Kopf zur Tür. Claire folgte ihr etwas befremdet, wurde dann aber blind für das Mädchen und hielt stattdessen nach Luis Ausschau. Weit und breit war nichts von ihm zu sehen. Claire schluckte, die Kehle wurde ihr eng. Luis war verschwunden, ohne sich auch nur zu verabschieden.
Carlota konnte es nicht fassen, dass ihr Plan tatsächlich aufging! Jene Claire wirkte zwar ziemlich verwirrt, aber das schien eine andere Ursache zu haben, so geistesabwesend, wie sie sich verhielt, als sie das Krankenhaus verließen. Offenbar hatte das Erdbeben sie so sehr aufgewühlt, dass sie keinen Augenblick daran gezweifelt hatte, sie wäre Tabitha. Auch während der Kutschfahrt zum Haus der de la Vegas’ blieb sie in Gedanken versunken und stellte keine Fragen. Carlotas Anspannung ließ nach. Sie hoffte inständig, dass es Tabitha genauso leichtfallen würde, den Eltern etwas vorzuspielen. Als sie an den vielen zerstörten Häusern vorbeikamen, musste sie unweigerlich an Valeria und Valentín denken, und sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass es ihnen gutging, aber dann verdrängte sie sämtliche Gedanken an ihre Familie. Das Leben hatte ihr eine einmalige Chance geboten, eine ganz andere zu sein – eine schönere, reichere, elegantere –, und die würde sie nutzen und sich nicht von Sentimentalitäten ruinieren lassen.
»Und du fühlst dich wirklich wohl?«, wandte sich Claire nun doch an sie.
»Ich habe nur leichte Kopfschmerzen. Am besten, ich nehme ein Bad, sobald wir da sind, und ruhe mich aus.«
»Selbstverständlich! Sobald wir da sind, wird man dir eine Badewanne einlassen – vorausgesetzt, die Wasserleitungen sind nicht zerstört worden.«
Sie fuhr fort, alle möglichen Zerstörungen in der Stadt zu beklagen, aber Carlota hörte nicht länger zu. Ein Bad in der Wanne, wie herrlich! Wenn sie sich zu Hause gewaschen hatten, dann nur in einem Eimer. Es hätte viel zu viel Mühe gekostet, eine ganze Wanne einzulassen und das Wasser zu erwärmen. Doch für reiche Leute war das eine Selbstverständlichkeit – und hinterher würde sie wohl feinste Kleidung bekommen.
»Nun, was denkst du?«, schloss Claire eben.
Carlota zuckte zusammen und hatte keine Ahnung, was die andere meinte. Sie rang
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