Die Rosen von Montevideo
Schulter genommen, fühlte sich nun aber immer unbehaglicher. Dennoch reckte sie das Kinn, ignorierte die fremde Frau und blickte sich verstohlen um. Welches der Häuser war denn nun ihr Elternhaus?
Carlota hatte sie nicht darauf vorbereitet, dass sie alle gleich aussahen: Zur Straße hin gab es nur eine winzige Tür und kein Fenster. Nirgendwo konnte sie eine Hausnummer erkennen. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie verunsichert sie war, und ging entschlossen auf eine der Türen zu. Es war die falsche, denn prompt brüllte ihr eine andere Frau nach: »Wir teilen mit euch ganz gewiss nicht unser Essen. Du kannst dir das Anklopfen sparen.«
Das musste jene Nachbarin sein, vor der Carlota sie gewarnt hatte – sie hieß Mercedes, hatte eine unangenehme, schrille Stimme und war eine herzlose Frau, die ungern teilte, wenn sie selbst etwas besaß, aber ständig andere um Hilfe anflehte, wenn ihr Mann wieder einmal seinen Lohn versoffen hatte.
Tabitha drehte sich um. »Ein wenig Mitleid mit meiner blinden Mutter könntest du schon haben.«
Mercedes zeigte immerhin so etwas wie ein schlechtes Gewissen, denn sie zog den Schädel ein, sagte jedoch trotzig: »Bei uns ist nichts zu holen. Wir müssen selbst zusehen, wie wir über die Runden kommen.«
Tabitha nickte und ging schweigend aufs nächste Haus zu – diesmal offenbar das richtige, denn niemand schrie ihr etwas nach. Die erste Prüfung war geschafft, doch ihr Hochgefühl hielt nicht lange an, so trist, wie ihr neues Zuhause war.
Irgendwann einmal war die Tür grün angestrichen worden, aber mittlerweile war ein Großteil der Farbe vom morschen Holz abgeblättert. Als sie sie öffnete, landete sie in einem winzigen Zimmer, das sie erst nur für einen Vorraum hielt, das sie dann aber, als sich ihre Augen ans trübe Licht gewöhnten, als Küche ausmachte. Von hier ging eine zweite Tür in den Innenhof ab, wo sich ein Stall für Federvieh, Kaninchen und Schweine befand und eine windschiefe Treppe nach oben führte. Unter dem Dach, hatte Carlota erklärt, lag ihr Schlafzimmer und das ihrer Eltern. Nach dem Innenhof folgte noch ein weiterer Raum, der ihnen gehörte und als Vorratskammer diente. Wenn es regnete, konnte man nichts von dort holen, ohne nass zu werden.
Einstmals war das Haus eine Gastschenke gewesen. Tabitha konnte sich zwar nicht vorstellen, dass viele Gäste hier Platz gefunden hatten, doch in jedem Fall stank es immer noch nach abgestandenem Bratenfett – kein Wunder, da man den Raum nur durch die beiden Türen lüften konnte, aber jene, die zur Straße wies, wohl meistens geschlossen blieb.
Tabitha blickte sich in der Küche um. Das Mobiliar war schäbig und passte nicht zusammen. Großteils war es wohl selbst gezimmert worden – von jemandem, der kein sonderlich großes Talent für Tischlerarbeiten hatte. Die Stühle sahen aus, als würden sie gleich zusammenbrechen, die Tischplatte war völlig schief, die Decke schwarz vor Ruß. Ganz zu schweigen von der Treppe, die sie unmöglich besteigen konnte! Schon vor dem Erdbeben war sie wohl nicht sonderlich stabil gewesen, aber nun war obendrein ein Teil des Geländers weggebrochen.
Am liebsten hätte sie sofort wieder kehrtgemacht, aber dann hörte sie eine Stimme von oben. »Carlota? Bist du das?«
Sie atmete tief durch. Das musste ihr Vater sein. Bis jetzt hatte sie all ihr Trachten auf die Herausforderung ausgerichtet, ihre wahre Identität zu verschleiern. Jetzt ging ihr auf, dass sie zum ersten Mal ihren Eltern begegnen würde, die sie einst – aus welchem Grund auch immer – im Stich gelassen hatten. Das Herz pochte ihr bis zum Hals, ihre Hände wurden schweißnass, als sie nach oben stieg. Zu der Aufregung gesellte sich eine verräterische Erkenntnis: dass sie dankbar war, ohne Eltern, aber mit größerem Reichtum aufgewachsen zu sein.
Sie schämte sich dafür, verdrängte die Gedanken und kämpfte darum, ein möglichst ausdrucksloses Gesicht aufzusetzen. Auf diesen Augenblick kam es an. Von allen Menschen würden am ehesten ihre Eltern durchschauen, dass sie nicht Carlota war.
Als sie deren Schlafzimmer betrat, achteten beide gottlob nicht auf sie. Ihr Vater drehte sich nicht einmal um. »Funktioniert die Wasserleitung wieder? Wir brauchen dringend frisches Wasser!«
Tabitha zwang sich, ihn nicht neugierig anzustarren. »Nein, sie ist immer noch zerstört«, sagte sie leise. Ihre Stimme zitterte, aber er bemerkte es nicht.
Sein Blick war besorgt auf die Frau gerichtet, die
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