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Die Rosen von Montevideo

Die Rosen von Montevideo

Titel: Die Rosen von Montevideo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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fortgegangen war, fühlte sie sich verlassen wie nie.
    Sie versuchte, sich Josés Gesicht auszumalen, wenn sie ihm die Neuigkeiten überbrachte, und das hellte ihre Laune ein wenig auf, doch zugleich machte sie sich neue Sorgen um ihn: Wie hatte er wohl das Erdbeben überstanden?
    Leider musste sie die Suche nach ihm aufschieben. Das Wichtigste war vorerst, zu ihrem neuen Zuhause aufzubrechen.
    Carlota hatte ihr den Weg dorthin ganz genau beschrieben, aber es war etwas anderes, ihn nur in Gedanken zu beschreiten als in Wirklichkeit. Das Haus von Valeria und Valentín lag in der Ciudad Novissima, einem Viertel zwischen der Ciudad Nueva und dem Boulevard General Artigas. Es war relativ neu, erst vor etwa einem Jahrzehnt entstanden, als der Kernbereich aus Alt- und Neustadt nicht mehr ausreichend Platz für die vielen Bewohner Montevideos bieten konnte, Vororte eingemeindet und mit neuen Namen versehen wurden.
    Tabitha hatte Leonora von jenem Stadtteil einmal reichlich verächtlich sprechen hören. Nur Pack und übles Gesinde würde dort leben. Anders als die Tante hatte Tabitha bis heute immer Mitleid mit armen Leuten gehabt, doch erst jetzt begriff sie, was Armut wirklich bedeutete. Sie ging zwar zunächst den Boulevard General Artigas entlang, der breit, halbwegs sauber und von ansehnlichen Häusern und Geschäften gesäumt war, aber als sie ihn verließ, wuchs ihr Entsetzen.
    Carlota hatte sie gewarnt, doch sie war nicht ausreichend auf das Elend vorbereitet, das sie erwartete und das nach dem Erdbeben noch viel augenscheinlicher wurde.
    Wie armselig die Lehmhütten waren, in denen vor allem Indios und Arbeiter wohnten! Viele waren vom Erdbeben zerstört worden, doch auch die, die unversehrt geblieben waren, waren in einem schrecklichen Zustand: niedrig, unverputzt, mit winzigen Fensterluken, die weder ausreichend Licht noch frische Luft spendeten. Das Schlimmste war die Lethargie, die sich über dieses Viertel gesenkt hatte. Anderswo hatte sie Menschen laut über die Zerstörung klagen hören – hier lungerten Männer, Frauen und Kinder inmitten von Schutt und Dreck und glotzten sie aus ausdruckslosen Gesichtern einfach nur an.
    Nie hatte sich Tabitha so unwohl in ihrer Haut gefühlt – und das lag nicht nur an Carlotas Kleidung aus kratzendem Stoff, die sie angezogen hatte, oder weil ihr trotz kühlem Wind der Schweiß ausbrach, sondern an der unausgesprochenen Feindseligkeit, die in der Luft lag und jedem galt, der jung, gesund und gar hübsch war und damit bewies, dass das Leben mehr zu bieten hatte als Krankheit, Hunger und Not.
    Mehrmals musste sie nach der Adresse ihrer Eltern fragen. Als sie der Straße immer näher kam, wurden die Häuser zwar etwas größer und stabiler, aber Tabitha war dennoch entsetzt. Die Straßen hatten kein Pflaster, sondern waren unebene, schmale Wege aus Lehm und Sand, auf denen Unrat verrottete, Hühner staksten und Hunde dösten. Kinder hockten in einem Kreis und schienen mit etwas zu spielen, doch als Tabitha sie erreichte, erkannte sie, dass sie in den eigenen Kot griffen.
    Sie unterdrückte ein Würgen und hätte sich am liebsten an den Straßenrand gesetzt und ihre Augen vor dem Elend verschlossen, doch als sie beim Haus ihrer Eltern ankam, galt es, sofort eine erste Herausforderung zu meistern: Ein Grüppchen Menschen stand hier beisammen und blickte ihr entgegen. Offenbar kannten diese Leute Carlota, was bedeutete, dass sie sich selbst so verhalten musste, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, ihnen zu begegnen.
    Gottlob blieben die Blicke nicht lange auf sie gerichtet, denn eben war eine heftige Diskussion entbrannt. Als sie zu ihnen trat, erkannte sie, dass die Menschen eine Wasserleitung umringten, die offenbar durchs Erdbeben zerstört worden war. Anscheinend teilten sich mehrere Häuser eine einzige Leitung.
    Eine der Frauen fauchte sie an: »Wo kommst du denn jetzt erst her?«
    Während Tabitha noch um eine Antwort rang, meldete sich eine andere zu Wort. »He Carlota! Es wird einiges auf dich zukommen mit deiner blinden Mutter! Nun musst du ganz allein nähen.«
    Sie klang eher schadenfroh als mitleidig.
    Valeria war blind? Das hatte Carlota ihr nicht erzählt. Sie hatte sie nur darauf vorbereitet, dass sie viel nähen müsste, und auch darauf, dass Valeria sehr darüber erbost sein würde, dass sie mitten in der Nacht weggelaufen war. »Du musst dir eben irgendeine Ausrede einfallen lassen«, hatte Carlota gesagt.
    Tabitha hatte es auf die leichte

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