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Die Rosen von Montevideo

Die Rosen von Montevideo

Titel: Die Rosen von Montevideo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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Miene verdunkelte. »Warum denn nicht?«, fragte er. »Du hast mich gebeten, Carlota zu suchen – und ich weiß so gut wie du, dass sie sich seit Jahren nach einem besseren Leben sehnt. Keine Ahnung, wie sie herausgefunden hat, dass sie mit Claire Gothmann verwandt ist, aber in jedem Fall kann die ihr mehr bieten als wir. Carlota ist immerhin ihre Nichte – und auch wenn es mir so wenig gefällt wie dir: Sie ist alt genug, um selbst zu entscheiden, ob sie die Nähe ihrer Familie sucht oder nicht.«
    »Ich will das nicht!«, schrie Valeria. Ihre Stimme kippte, und sie brachte das, was ihr eigentlich auf der Seele lastete, nicht über die Lippen. Ich will nicht an die Vergangenheit denken und das Gefühl haben, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben. Ich will nicht blind und hilflos sein. Ich will mich nicht von meiner Tochter entfremden – der einzigen, die ich noch habe. Ich will nicht, dass unsere Liebe sich in Überdruss wandelt.
    »Valeria, ich bitte dich, sei vernünftig! In deinem Zustand … du brauchst Hilfe … Hilfe, die ich allein dir nicht geben kann. Wir können so nicht weitermachen. Glaub mir, ich will mit dieser ganzen Brut nichts zu tun haben, aber du musst deinen Stolz herunterschlucken und Claire um Hilfe bitten.«
    Er war auf sie zugetreten, wie sie es an der Wärme spüren konnte. Eben breitete er die Arme aus und versuchte, sie an sich zu ziehen, doch das war mehr, als sie ertragen konnte. Sie schlug mit der Faust gegen seine Brust.
    »Geh weg!«
    »Du bist von Sinnen!«
    »Geh weg!«, schrie sie wieder. Als er sich nicht rührte, lief sie an ihm vorbei. Sie zählte fünf Schritte, dann erreichte sie die Tür.
    »Valeria!«
    Sie hörte nicht auf ihn, sondern stürmte hinaus. Die Sonne brannte auf ihrer Haut, sie glaubte, ihr Kopf müsste zerspringen, und draußen war sie noch hilfloser als drinnen, aber sie konnte nicht stehen bleiben. Sie stieß gegen eine Hausmauer, schürfte sich die Hand auf, ließ sich davon jedoch nicht aufhalten. Sie lief immer weiter weg. Von Valentín. Und von der Einsicht, dass am Ende ihrer Entscheidung für Freiheit und Liebe nur Scheitern, Krankheit und Armut standen.
     
    Bald hatte sie ihr Viertel hinter sich gelassen, wie sie an den immer wohlriechenderen Gerüchen und dem dichteren Gedränge bemerkte. Mehrmals stieß sie mit Menschen zusammen und wurde von ihnen übel beschimpft, doch nichts brachte sie dazu, stehen zu bleiben. Einmal vernahm sie ganz dicht an ihrem Ohr ein Klingeln, gefolgt von einem Quietschen und noch mehr Flüchen – offenbar war sie fast vor eine der Straßenbahnen gelaufen, die seit knapp zwanzig Jahren in Betrieb waren und mit der sie bis jetzt noch nie gefahren war, aber sie kam nach wie vor nicht zur Besinnung. Sie fühlte, dass die Pflastersteine unter ihren Füßen glatter und ebenmäßiger wurden, und sie erinnerte sich vage daran, dass man damals, als die besseren Viertel der Stadt mit elektrischer Beleuchtung ausgestattet wurden, auch viele Straßen erneuerte.
    Doch was nützte ihr diese Beleuchtung, wo alles finster war und womöglich immer finster bleiben würde?
    Schlimmer noch als ihre Blindheit war die Finsternis in der Seele.
    Wegen Carlota, wegen Valentín, wegen Claire, wegen … nein, das konnte sie nicht denken.
    Während sie lief und lief, ohne etwas zu sehen, dachte sie plötzlich, dass sie in den letzten Jahren eigentlich immer blind durch die Stadt gegangen war. Sie hatte so radikal mit ihrer Vergangenheit gebrochen, dass sie nicht wieder an alte Schauplätze zurückkehren wollte, und falls es sich nicht vermeiden ließ, hatte sie alles Vertraute ignoriert.
    Die Ciudad Vieja hatte sie nur wenige Male betreten, doch jetzt verriet ihr der salzige Geruch die Nähe des Hafens. Valentín hatte es einmal erwähnt, aber sie hatte sich nie selbst davon überzeugt, dass es dank der Kanalisation nicht mehr stank wie einst. Nie hatte sie auch mit eigenen Augen die vielen Parks und Promenaden sehen wollen, die in den letzten fünfzehn Jahren entstanden waren und wo Montevideos Elite flanierte, wahrscheinlich auch die de la Vegas’.
    Sie wollte keine reichen Leute sehen, sie verachtete sie. Das zumindest hatte sie Valentín gesagt, während sie insgeheim von der Angst geplagt wurde, dass sie sich nach dem alten, bequemen Leben sehnen würde. Nach den Eltern, nach Onkel Carl-Theodor, nach Claire.
    Valentín hatte nie erwartet, dass sie dieses Opfer brachte, aber umso verbissener hatte sie an der Entscheidung

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