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Die Rosen von Montevideo

Die Rosen von Montevideo

Titel: Die Rosen von Montevideo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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über sie beugte.
     
    Sie starrte ihn an, als sähe sie ihn zum ersten Mal seit Jahren. Zwar war sie erst seit kurzem blind, aber auch in der Zeit vor dem Erdbeben hatte sie kaum auf ihn geachtet. Wann war sie in den letzten Jahren so in seinem Blick versunken wie jetzt? Wann hatte sie zärtlich über seine Wangen gestreichelt? Wann seine Hand genommen und gedrückt und sich an dem Gefühl gelabt, nicht allein durch das Leben zu gehen?
    »Ich sehe dich …«, murmelte sie.
    Sie blickte sich um und erkannte, dass sie inmitten von Fässern lag. Einige waren zerborsten, andere unversehrt. Ihr Inhalt war herausgekullert, Lederwaren, Taue und Fangnetze. Eine Horde Männer sammelte die Sachen ein, fluchte auf sie und war blind für das Wunder, das sich vor ihren Augen abgespielt hatte.
    »Macht, dass ihr fortkommt!«, schrien sie Valeria und Valentín an.
    Valentín hob sie hoch und trug sie weg, und ein zweites Mal versank sie in seinem Blick. Vorhin hatte sie gedacht, dass keine Worte der Welt die vielen Versäumnisse wettmachen und die vielen Wunden heilen konnten. Jetzt dachte sie, dass es doch möglich war, wenn sie nur die richtigen wählte. Ich liebe dich. Ich brauche dich. Ich will mit dir zusammen sein.
    Doch bevor sie solche Bekenntnisse aussprechen konnte, musste sie noch etwas anderes tun.
    »Lass mich runter, ich kann selbst gehen.«
    Er tat es nur unwillig. »Ich sollte dich zum Arzt bringen, damit der dich untersuchen kann. Immerhin hast du einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommen.«
    »Der mich wieder sehen lässt. Vielleicht ist das ja auch nur ein Zufall, aber ich fühle mich auf jeden Fall gut.«
    »Trotzdem …«
    »Nein! Ich habe viel zu lange damit gewartet, mich viel zu lange von meinem Stolz leiten lassen … Ich muss zu Claire gehen, muss mit ihr sprechen, und natürlich auch mit Carlota.«
    Sie sah, wie sich Widerspruch in ihm regte, aber dann erkannte er, wie entschlossen sie war, und nickte. »Und ich begleite dich!«
    Als sie sich auf den Weg machten, ließ er ihre Hand nicht los.
     
    Tabitha zwinkerte Antonio aus der Ferne zu. Er erwiderte ihr Lächeln zwar flüchtig, tat aber so, als würde er sie nicht sehen.
    In den letzten Tagen hatte er sie mehrmals heimlich besucht – und jedes Mal hatte sie sich sehr über die Abwechslung gefreut und es genossen, dass ihre Gedanken einmal nicht um die eigene Lage kreisten. Wenn sie mit Antonio zusammen war, fühlte sich alles herrlich leicht an, und sie konnte sich kurz dem Trug hingeben, dass ihr Leben nicht ruiniert war, sondern es jederzeit die Chance auf einen Neubeginn gab. Die Wirklichkeit holte sie bald wieder ein: Nachts weinte sie oft um José, die Schwangerschaft schritt voran, und sie hatte immer noch keine Ahnung, wie sie Tante Claire diesen Umstand beibringen sollte – ganz zu schweigen davon, dass sie sie immer noch belog, wenn es um ihre wahre Identität ging. Aber sobald morgens die Sonne aufging, freute sie sich auf ein Wiedersehen mit Antonio. Der Blick auf die Welt fiel nicht ganz so düster aus, wenn sie gemeinsam mit ihm an ihrem Plan schmiedete, und falls es für Claire und Luis tatsächlich noch Hoffnung auf neues Glück gab, dann vielleicht auch für sie.
    »Es ist ziemlich windig heute«, murmelte Claire eben. Sie deutete auf die vielen weißen Schaumkronen, die auf der Wasseroberfläche tanzten. Der Strand war nicht so belebt wie sonst, was Tabitha Sorge bereitete. Obwohl sie die Tante geschickt von Antonio, seinen Schwestern und Luis weglotste, die ebenfalls gerade an den Strand gekommen waren, bestand die Gefahr, dass Claire sie zu früh entdecken würde. Allerdings war es einmal mehr hilfreich, dass Claire wie immer in Gedanken versunken war, und Antonio tat das Seine, um ebenfalls genügend Abstand zwischen seiner Familie und den beiden Frauen zu halten.
    »Du hast erzählt, dass du auch im Winter im Meer schwimmen gehst. Dann ist es doch noch kälter, oder?«, meinte Tabitha.
    »Gewiss, doch mir macht das nichts aus. Aber für unser Vorhaben wäre es besser, das Meer wäre glatt.«
    Mit dem Vorwand, dass sie schwimmen lernen wollte und Claire es ihr doch zeigen möge, hatte Tabitha sie hierhergelockt und war dabei ein hohes Risiko eingegangen: Wenn sie tatsächlich ihre Kleider abgelegt hätte, wäre Claire ihr gerundeter Leib nicht entgangen.
    »Na ja«, meinte sie nun. »So eilig habe ich es mit dem Schwimmenlernen auch wieder nicht. Vielleicht hast du recht, und wir verschieben es besser auf ein anderes Mal.

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