Die Rosen von Montevideo
zu ziehen. Trotz allem würde sie wissen, wie sie vorgehen sollten, und Tabitha würde sich nicht lange als so bockig erweisen. Letztlich war sie doch ein braves, gehorsames Mädchen, das seine Großeltern zufriedenstellen wollte.
Albert beruhigte sich langsam, schob ein Gespräch mit Rosa jedoch fürs Erste auf.
Am Abend stellte sich heraus, dass er einen schweren Fehler begangen hatte.
Tabitha erschien nicht zum Abendessen, und als er Else aufforderte, sie zu holen, kam jene unverrichteter Dinge wieder. Sie wirkte ernstlich besorgt. »Sie ist fort«, sagte sie.
»Wie – fort?«
»Das hat sie zurückgelassen.«
Sie hob einen Brief hoch. Rosa blickte ihn fragend an, und Albert schloss erschöpft die Augen.
Ich bin zu alt für diese Aufregung, dachte er einmal mehr.
Er ahnte, was in dem Brief stand, noch ehe er ihn las: Wenn Nicolas in seinem Haus nicht erwünscht war, dann würde auch sie, Tabitha, nicht länger darin leben.
39. Kapitel
V aleria ging fünf Schritte, ehe sie mit dem Schienbein gegen den Tisch stieß. Sie verkniff sich einen Schmerzenslaut, versuchte vielmehr, sich die Entfernung zu merken, und drehte sich nach rechts, um wieder fünf Schritte zu machen. Diesmal stieß sie gegen den Herd – nicht mit dem Bein, sondern mit dem Arm, und es war noch schmerzhafter, obwohl kein Feuer brannte. Fluchend rieb sie sich den Ellbogen und merkte, dass ihr Magen knurrte. Seit Tagen hatte sie schon nichts Ordentliches gegessen. Die Geldvorräte neigten sich dem Ende zu, denn sie konnte nicht nähen, und Valentín kam jeden Tag früher von der Fabrik nach Hause, um sich um sie zu kümmern, und verzichtete dadurch auf einen Teil seines Lohns. Anstatt seine Hilfe anzunehmen, schickte sie ihn Tag für Tag fort, um nach Carlota zu suchen. Die Sorge um die Tochter wuchs mit jeder Stunde, und sie verzweifelte beinahe wegen der eigenen Hilflosigkeit.
Heute hatte sie entschieden, diese nicht länger hinzunehmen und sich vom fehlenden Augenlicht nicht entmutigen zu lassen, wieder mehr Selbständigkeit zu wagen. Es gab schließlich auch andere blinde Menschen, die sich irgendwie zurechtfanden, anstatt den ganzen Tag verzagt im Bett zu liegen oder in der Stube zu hocken.
Abermals machte sie fünf Schritte, die sie laut mitzählte, und landete diesmal bei der Tür. Sie öffnete sie, horchte nach draußen und hörte die Nachbarinnen schwatzen. Prompt fühlte sie sich wie eine Ausgestoßene. Natürlich, sie könnte zu ihnen treten, um den neuesten Klatsch zu erfahren und ihren Mitleidsbekundungen, ob nun echt oder geheuchelt, zu lauschen. Aber Letztere würde sie nicht ertragen und sich hinterher ja doch nur erbärmlicher fühlen.
Sie schloss die Tür, ging wieder fünf Schritte, erreichte aber nicht wie erwartet den Herd, sondern stieß gegen den Stuhl. Er fiel laut krachend um, und als sie sich bückte, um ihn wieder aufzustellen, griff sie ins Leere.
»Verflucht!«
Sie rieb sich die Schläfen. Seit dem Erdbeben machten ihr nicht nur die Blindheit zu schaffen, sondern auch Kopfschmerzen, die heute noch quälender waren als in den letzten Tagen. Seufzend griff sie ein zweites Mal nach dem Stuhl, und diesmal gelang es ihr, ihn wieder aufzustellen. Allerdings war sie danach so erschöpft, dass sie sich setzen musste, und ihre Entschlossenheit versiegte. Wie sollte es nur weitergehen, wenn es ihr nicht einmal gelang, sich in den eigenen vier Wänden zu orientieren?
Tränen stiegen auf, doch sie unterdrückte sie, als sie Schritte hörte. Wenig später öffnete sich die Tür.
»Valentín?«
Sie war unendlich erleichtert, dass er wieder da und sie nicht länger allein war, aber das wollte sie ihm nicht zeigen. »Hast du sie gefunden?«
»Ich weiß, wo sie lebt«, erwiderte er.
Valeria sprang erleichtert auf. »In Gottes Namen, wo denn?«
»Sie hat bei … Claire Unterschlupf gefunden.« Valentín sprach den Namen aus, als müsste er an einem besonders bitteren Bissen kauen.
Auch Valerias Erleichterung schwand. »Bei Claire?«, fragte sie atemlos.
»Sie lebt in einer Quinta außerhalb von Montevideo, und …«
»Woher weißt du das?«, unterbrach sie ihn scharf.
»Das lässt sich leicht herausfinden – die de la Vegas’ und Gothmanns sind bekannte Familien in Montevideo. Ich war dort und habe sie aus der Ferne beobachtet.«
Valeria war entsetzt. »Du hast kein Recht, zu Claire zu gehen, und Carlota auch nicht.«
Sie hörte Valentín seufzen und konnte sich trotz Blindheit denken, wie Überdruss seine
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