Die Rosen von Montevideo
erzogen, ihren Lehrer zu küssen, aber genau das ist passiert.
Alberts erste Eingebung war es, das Schreiben zu zerknüllen. Was für eine unverschämte Verleumdung! Doch dann spitzte er unwillkürlich die Ohren, hörte die Klänge des Klaviers, die Stimme von Tabitha, wie beides abriss und erst Gemurmel folgte, dann Gelächter. Es versetzte ihm einen Stich, der schmerzhafter war als alles, was er seit Jahren gefühlt hatte.
Er seufzte. Manchmal war es tatsächlich großartig, alt zu sein, dann nämlich, wenn man auf ein erfülltes Leben zurücksah. Manchmal war es einfach nur erschöpfend – vor allem in den Augenblicken, wenn man sich unverhofft den Gefühlen seiner Jugend stellen musste.
Albert fiel es schwer, streng zu sein. Er hatte es nie gekonnt, schon damals gegenüber Valeria nicht. Er empfand große Zärtlichkeit für Tabitha und hatte sie als Kind oft auf den Schoß genommen, doch wie bei seiner Tochter hatte er ihre Erziehung lieber anderen überlassen. Bis jetzt war er damit gut gefahren, aber nun musste er wohl oder übel eingreifen, und er entschied, Rosa lieber nicht bei dieser Aussprache dabeizuhaben. Nicht nur dass diese ebenso ungern wie er selbst dem Mädchen Grenzen aufzeigte – er hatte überdies bemerkt, dass sie den jungen Musiker oft traurig musterte, und wurde den Verdacht nicht los, dass er sie an Fabien erinnerte. Besser, er wühlte weder in unangenehmen Erinnerungen, noch riskierte er den Widerspruch einer aufgrund von nostalgischen Gefühlen milde und nachsichtig gestimmten Großmutter und handelte lieber eigenmächtig.
Lange hatte er sich die richtigen Worte überlegt, doch als er Tabitha zu sich rief, geriet er prompt ins Zaudern. Ihre Wangen waren so rosig, ihr Blick war so leuchtend. Sie wirkte lebendig wie nie und erinnerte ihn an die junge Rosa, wie sie vor der Ehe mit ihm gewesen war, ja sogar ein wenig an Valeria, deren überschäumendes, ungezügeltes Temperament ihn immer etwas erschreckt hatte. Es auch an Tabitha wahrzunehmen, war ungewohnt für ihn. Gewiss, sie war eine junge Frau und diese dafür bekannt, dass sie weniger von Verstand als vielmehr von ihren Gefühlen geleitet wurden – sah man von unnahbaren Vernunftmenschen wie Antonie ab –, aber bislang hatte sie immer etwas verträumt und hilflos gewirkt. Nun witterte er nicht nur Sturheit, sondern gar Kampfeswillen, und das, obwohl er noch kein Wort gesagt hatte.
Rasch verwarf er das Vorhaben, sie direkt auf Nicolas anzusprechen, und legte sich eine ganz andere Taktik zurecht. Statt ein strenges Gesicht aufzusetzen, lächelte er freundlich.
»Ich habe manchmal das Gefühl, du könntest dich hier in Frankfurt etwas langweilen«, begann er.
»Wie kommst du nur darauf?«, fragte sie überrascht.
»Nun, ich hatte bislang immer den Eindruck, dass du es im Sommer kaum erwarten konntest, nach Montevideo zu reisen.«
Sie senkte den Kopf und wirkte plötzlich schuldbewusst, etwas, was er nicht recht deuten konnte.
»Nach dem Erdbeben kann ich fürs Erste gerne darauf verzichten«, murmelte sie.
»Siehst du, und darum ist mir eine Idee gekommen«, erklärte er eifrig. »Es gibt doch noch so viele andere Länder auf dieser Welt, die eine Reise lohnen. Ich habe mir schon länger gedacht, dass wir eine solche gemeinsam unternehmen könnten. Zum Beispiel nach Troja oder Pompeji zu den Ausgrabungen. Meines Wissens bietet das jüngstens gegründete Reisebüro Cook auch faszinierende Reisen in den Orient an.«
Er stellte befriedigt fest, dass er Tabitha in einen Zwiespalt gestürzt hatte. Sie war von seinem Angebot sichtlich angetan, und es schien ihr auf den Lippen zu liegen, begeistert zuzustimmen. Doch als er sich schon innerlich für seine Taktik beglückwünschen wollte, verkündete sie plötzlich schmallippig: »Das ist eine gute Idee. Aber wenn ich es mir recht überlege, möchte ich lieber hierbleiben.«
So schnell wollte sich Albert nicht geschlagen geben. »Aber ist dein Leben nicht etwas eintönig? Ich meine, du zählst nun schon mehr als zwanzig Jahre. Ich finde, dass du deine Tage mit einer anderen Beschäftigung zubringen solltest als … als mit Gesangsstunden.«
Zu spät zügelte er den unverkennbar verächtlichen Tonfall.
»Damit hat es also zu tun!«, stieß sie aus. Etwas Störrisches, Feindseliges lag plötzlich in ihrem Blick, das ihn geradezu verängstigte. Wie konnte es sein, dass ihm seine liebreizende, freundliche Tabitha plötzlich so fremd geworden war? Wo war das Mädchen, das
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