Die Rosen von Montevideo
vor?«
»Das geht dich nichts an. Du hast deinen Teil unseres Plans erfüllt, jetzt bin ich dran. Geh Violine spielen!«
Immer noch wich Nicolas nicht zurück. »Warum besitzt du eine Waffe? Und was willst du damit? Unser Plan sah vor, dass ich Tabitha von zu Hause fortlocke und dass wir ihrem Großvater den Aufenthaltsort nur verraten, wenn er endlich die Wahrheit gesteht. Doch für dieses Vorhaben brauchst du keine Waffe!«
Laurent wurde wütend. Warum erwies sich sein weicher, verträumter, naiver Sohn ausgerechnet jetzt als so misstrauisch?
»Geh mir endlich aus dem Weg!«, wiederholte er.
Nicolas’ Augen weiteten sich ängstlich. »Du willst dich nicht damit begnügen, die Wahrheit zu erfahren. Du willst … du willst jemanden töten. Albert Gothmann, nicht wahr?«
Schweigen folgte, in dem beide einander völlig erstarrt gegenüberstanden. Nicolas sah ihn an und suchte in der Miene des Vaters nach der Bestätigung seines schrecklichen Verdachts. »Nein«, dämmerte ihm plötzlich die Wahrheit, »ihn zu töten wäre keine vollkommene Rache. Du triffst ihn noch mehr, wenn du … wenn du …« Nicolas brach ab. »Tabitha!«, rief er dann entsetzt.
»Er hat mir meinen Vater genommen!«, schrie Laurent. »Also nehme ich ihm die Enkeltochter!«
»Bist du wahnsinnig? Ich … ich habe noch einen Vater – aber so wie du dich benimmst, wäre es mir lieber, du wärst tot.«
Laurents Wut zerplatzte wie eine rote Blase. Er hob die Hand, um ihn zu schlagen, und merkte zu spät, dass er immer noch die Pistole hielt. Nicolas wehrte sich nicht, zuckte nicht einmal zurück. Ein dumpfer Laut erklang, als ihn der Knauf mit ganzer Wucht traf, und ein noch lauteres Poltern, als er in sich zusammensackte.
Entsetzen stieg in Laurent hoch – heftig, aber nur kurz. Als er sich über Nicolas beugte und seinen Namen rief, erkannte er, dass er noch atmete. Der Schlag würde einen blauen Fleck hinterlassen, aber er blutete nicht. Gewiss würde er sich bald erholt haben.
Laurent stieg über seinen reglosen Sohn hinweg. Er konnte keine Rücksicht mehr nehmen – auf nichts und niemanden.
Elses Sohn Moritz war entsetzlich halsstarrig. Albert und Rosa fragten wiederholt, wo Tabitha steckte, erst flehentlich, dann streng, doch er verweigerte ihnen strikt die Antwort. Zwar hatte er zugegeben, dass er sie von hier fortgebracht hatte, aber er hielt an seinem Versprechen fest, das er ihr gegeben hatte: Er würde niemandem ihren Aufenthaltsort verraten.
Rosa war erleichtert, dass Tabitha bei der Flucht nicht ganz auf sich allein gestellt gewesen war, und wollte schon aufgeben, doch dann trat Else vor und gab ihrem Sohn eine Kopfnuss wie einem kleinen Kind.
»Auf der Stelle sagst du den Herrschaften, wo sie steckt!«, blaffte sie ihn an.
Moritz rieb sich den schmerzenden Kopf. »Aber Mutter, ich musste ihr doch schwören …«
»Das sagtest du schon. Aber siehst du nicht, dass ihre Großeltern in schrecklicher Sorge um sie sind?«
»Ich kann versichern – Fräulein Tabitha befindet sich an einem sicheren Ort. Es geht ihr gut, sie hat genug zu essen, und ich habe sogar ein Feuer gemacht.«
»Wo?«, brüllte Albert.
Moritz kniff seine Lippen zusammen, obwohl Rosa fühlte, wie sein Widerstand bröckelte, doch ehe er endlich die Wahrheit verriet, ertönte von der Tür her eine Stimme: »Ich fürchte, ich weiß, wo sie ist.«
Rosa fuhr herum und sah Nicolas dort stehen. Er musste in höchster Eile hierhergekommen sein, denn sein Gesicht war rot vor Kälte, und er zitterte, weil er sich nicht warm genug gekleidet hatte. Überdies sah er mit dem zerzausten Haar und dem geschwollenen Auge so aus, als wäre er in eine Rauferei geraten.
Bevor er sich erklären konnte, stürzte Albert auf ihn los: »Sie!«, schrie er. »Sie sind für all das verantwortlich! Sie haben ihr eingeredet, von zu Hause fortzulaufen! Tabitha war immer das anständigste und bravste Mädchen, das man sich nur vorstellen konnte, und …«
Er hatte Nicolas am Kragen gepackt und schüttelte ihn. Der junge Mann ließ es stoisch über sich ergehen, aber Rosa ging hastig dazwischen. »So lass ihn doch!«
»Warum?«, fragte Albert empört. »Seit sie ihn kennt, ist Tabitha nicht mehr die Alte, das hat doch auch Else bestätigt!«
Das alte Dienstmädchen schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nein«, murmelte sie, »nicht seit sie ihn kennt, sondern seit sie aus Montevideo zurück ist. Da ist es Ihnen nur noch nicht aufgefallen.«
»Bitte!«, stieß Nicolas
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