Die Rosen von Montevideo
Sehnsüchte erfüllte.
»Sag, hast du mir überhaupt zugehört?«, fragte Fräulein Widmayr streng.
Valeria war so in Gedanken versunken, dass sie nicht einmal bemerkt hatte, wie diese ihre Standpauke eröffnet hatte. Sie senkte den Blick, um Schuldbewusstsein vorzutäuschen.
»Ich bin Fräulein Claasen nur versehentlich auf den Saum getreten – wirklich!«
»Davon habe ich gar nicht gesprochen.«
Valeria schwieg betreten.
»Du bist nun achtzehn Jahre alt – und für ein Mädchen somit viel zu lange auf der Schule.«
»Die Burschen gehen doch auch so lange aufs Gymnasium.«
»Nun, die müssen auch viel lernen, um später zu studieren … Mädchen brauchen keinen Schulabschluss.«
Valeria wusste: Aussagen wie diese machten Claire rasend. Ihr selbst war es zwar nur recht, wenn sie so wenig wie möglich lernen, lesen und schreiben musste, aber sie konnte sich nicht verkneifen, sich Claires Argumente zu eigen zu machen, wenngleich sie nur aus Trotz, nicht aus Überzeugung widersprach: »Also haben Sie das Pensionat nur gegründet, um Eltern die Möglichkeit zu geben, ihre Töchter irgendwo aufzubewahren, bis diese alt genug sind, um zu heiraten? Und nicht etwa, um jungen Frauen Bildung zu vermitteln und einen Schulabschluss anzustreben?«
»Hüte deine Zunge! Im Übrigen habe ich soeben deinem Vater geschrieben und ihn gebeten, dich abzuholen.«
Valeria hob entsetzt den Blick. Unmöglich, dass ein harmloser Streich solche schwerwiegenden Folgen hatte!
»Sie schmeißen mich raus?«, entfuhr es ihr bestürzt.
Das Schweigen der Direktorin war Antwort genug. Immerhin war Fräulein Widmayr bereit, etwas milder hinzuzufügen: »Es liegt nicht nur an deinem Benehmen. Wir denken einfach, dass du nicht länger in das Pensionat passt, nicht zuletzt wegen deines Alters. Deine Eltern haben sicher große Pläne …«
Valeria konnte sich nicht vorstellen, dass Rosa und Albert sich irgendwelche Gedanken über ihre Zukunft machten. Ihr selbst erschien diese Zukunft plötzlich unerträglich trist: Ein Leben in ihrem Landhaus im Taunus oder gar in Frankfurt war noch öder als die Kurse im Pensionat. Es bedeutete, stundenlang auf Empfängen, Soireen und Bällen zu lächeln, bis einem der Mund weh tat, obendrein in Gesellschaft der eisigen Eltern, die sich wie immer anschweigen würden, und dazu verpflichtet, Konversation mit Bankiers wie ihrem Vater zu betreiben, die nur über Geschäfte sprachen. Erst letzten Sommer war sie während der Ferien einem jungen Mann vorgestellt worden, der so eifrig über die Chancen referierte, die die neugegründeten Sparkassen insbesondere für arme Leute boten, dass sie ständig seine Speicheltröpfchen abbekam. Der Benimmkurs sah leider keine Lehreinheit vor, in der man übte, sich unauffällig das Gesicht abzuwischen. Wie unerträglich das alles war, zumal seit letztem Sommer auch nicht mehr länger nur über langweilige Geschäfte gesprochen, sondern überdies ständig über die preußische Besatzung geklagt wurde!
»Aber …«, setzte sie an. Sie überlegte fieberhaft, wie sie die Direktorin noch umstimmen konnte, aber ihr fiel kein Argument ein. Vielleicht konnte sie es mit Tränen versuchen … doch während sie noch nachdachte, ob es ihr überhaupt gelingen würde, echte Tränen zu weinen, ging ihr etwas durch den Sinn.
Nur weil sie hier nicht mehr geduldet wurde, bedeutete das noch lange nicht, dass sie nach Frankfurt zurückkehren musste …
»Wann wird mein Vater anreisen?«, fragte sie.
»Ich nehme an, dass er es wegen seiner vielen Geschäfte erst nächste Woche einrichten kann.«
Das war Zeit genug.
Wieder senkte sie ihren Blick. »Es war mir eine große Freude, hier zur Schule gehen zu dürfen.«
Die Direktorin sah sie wahrscheinlich überrascht an, doch bevor sie den unerwarteten Anflug von Sittsamkeit hinterfragte, hatte sich Valeria schon erhoben und den Raum verlassen.
Ihre Schritte hallten über den Marmorboden. Nur mit Mühe verkniff sie sich ein triumphierendes Lächeln, bis sie den Schlafsaal erreicht hatte.
Dort öffnete sie rasch die Schatulle, in der sie all ihre Kostbarkeiten aufbewahrte – den Schmuck, den sie von ihrer Großmutter Adele geerbt hatte, und, unter dem roten Samt verborgen, das Geld. Ihre Eltern schickten es regelmäßig, damit sie sich passend einkleiden konnte, aber Valeria begnügte sich damit, in der Freizeit ebenfalls die blaue Schuluniform zu tragen. Anders als Claire gab sie ihr Geld auch nicht für Bücher aus.
Hastig
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