Die Rosen von Montevideo
zählte sie die gesparten Scheine ab. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie mit diesem Betrag auskommen würde, doch um den ersten Schritt ihres Plans umzusetzen, sollte das Geld reichen.
Claire ließ ihr Buch sinken und lauschte nach draußen. So kurz vor ihrer Abreise nach Montevideo empfing ihr Vater noch viele Gäste in seinem Hamburger Stadthaus. Meist war es langweilig, den Gesprächen zuzuhören, weil sie ausschließlich um Geschäfte kreisten, aber seit einigen Tagen kamen vor allem die vielen Familien zu Besuch, die nach Uruguay auswandern wollten.
Erst kürzlich hatte die dortige Regierung eine Kolonisationsgesellschaft ins Leben gerufen, und Carl-Theodor Gothmann unterstützte sie, indem er Informationen über Land und Leute hier in Hamburg weitergab. Das lockte immer mehr auswanderungswillige Deutsche in das edle Stadthaus – die meisten aus Bremen und Lübeck –, die ihn baten, ihre Papiere zu prüfen und ihnen Reisetipps zu geben. Die meisten waren einfache Leute – Matrosen und Landarbeiter, Tagelöhner und Handwerksgesellen –, aber es waren auch Möbelhändler und Schreiner dabei, Sattler und Kaufleute, die sich schon jetzt ihr Geld mit Import und Export verdienten und sich von der Ausreise neue Kontakte erhofften.
Auch ein paar Frauen kamen, die demnächst nach Uruguay reisen würden, um dort einen Landsmann zu heiraten. Während sich etliche von diesen eine Frau aus der Banda Oriental als Künftige erkoren hatten, legten einige wenige Wert darauf, sich die Bräute aus der einstigen Heimat zu holen und darauf zu zählen, dass – wo Bräuche und Sprache die gleichen waren – auch das Eheleben besser harmonierte.
Claire hatte bislang sehr zurückgezogen gelebt und die Freiheiten genossen, die der Vater ihr ließ. Ihre Haushälterin Frau Grotebeck hätte es zwar gerne gesehen, wenn sie die Haushaltsführung übernommen hätte, aber Claire war es unangenehm, die Dienstmädchen zurechtzuweisen, wenn in einer Ecke Staub wucherte, und herzlich egal, welche Menüfolge sich die Köchin ausgedacht hatte. Und gottlob verlangte ihr Vater nicht von ihr, mehr Engagement zu zeigen, anstatt sich mit ihren Büchern in ihrem Zimmer zu verkriechen. Dieser Tage lugte sie allerdings oft durch den Türspalt und betrachtete die ärmlich gekleideten Menschen, die bald die Reise antreten würden, mit unverhohlenem Respekt. Sie waren ohne Zweifel sehr mutig, sich auf dieses Wagnis einzulassen, obwohl sie nicht gewiss sein konnten, in der Fremde genug Geld zu verdienen, um sich und die ihren durchzubringen, und obwohl die Kolonisationsagenten deutlich eine klare Warnung ausgesprochen hatten: Wer es hier in Deutschland nicht geschafft hatte, sich eine Existenz mit einträglichem Auskommen aufzubauen, würde es in Uruguay womöglich erst recht nicht weit bringen.
Noch mehr faszinierten sie die Frauen, die zu künftigen Bräutigamen reisten – Männern, die sie zuvor noch nie gesehen, sondern mit denen sie bestenfalls ein paar Briefe ausgetauscht hatten. Claire wäre an ihrer statt vor Aufregung gestorben. Nun gut, auch sie selbst würde bald in die Fremde aufbrechen und die weiteste Reise antreten, die sie je gemacht hatte, aber sie würde es an der Seite ihres geliebten Vaters tun.
Sie freute sich schon seit Wochen darauf. Anders als Valeria war sie immer gern aufs Pensionat gegangen, um dort zu lernen, aber nach dem Tod ihrer Mutter wollte sie ihren Vater nicht alleine lassen. Sie hatte behauptet, dass ihr an seiner Seite schon niemals langweilig werden würde, solange sie Bücher hatte. Aber insgeheim dachte sie manchmal, dass sie noch zu jung war, um den stets gleichen Tagesablauf zu genießen, und als er ihr vorgeschlagen hatte, sie einmal nach Montevideo zu begleiten, war ihr das als willkommene Abwechslung erschienen. Auch ihrem Vater, der oft in Melancholie versank, würde der baldige Aufbruch guttun.
Claire legte ihr Buch zur Seite, verließ das Zimmer und ging die Treppe nach unten. Dicke Teppiche dämpften ihre Schritte, samtene Vorhänge hielten alles Tageslicht fern. Im Haus war alles gediegen – und dunkel.
Einst hatte es Antonie so eingerichtet, die vor einigen Monaten ganz plötzlich gestorben war – zumindest hatte es für die anderen diesen Anschein gehabt. In Wahrheit hatte sie wohl schon länger an einer Frauenkrankheit gelitten, wie ihr Hausarzt nach ihrem Tod bestätigte, ohne konkreter zu werden. Antonie hatte sich wie immer beherrscht gezeigt und niemandem verraten, welche
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