Die Rosen von Montevideo
nicht vorankam.
Wie denn auch?, dachte Valeria ungehalten. Es war schließlich ein Artikel aus dem
Töchter-Album
von Thekla von Gumpert, das erbauliche und lehrhafte Geschichten sowie Anstandsregeln enthielt, zu dem sie einen Aufsatz schreiben sollte. Die Geschichten hatten miteinander gemein, dass sie schrecklich langweilig waren, und wenn man die Regeln einhielt, wurde man mit der Zeit wohl so hohl im Kopf, dass man die Langeweile nicht bemerkte.
Fräulein Claasen blieb neben ihr stehen. »Was gab es zu Mittagessen?«, fragte sie.
Valeria blickte verwundert hoch. »Erbsensuppe«, sagte sie rasch.
»Und das hat Sie nicht satt gemacht?«
Was für eine Frage? Satt war sie schon, aber das Essen im Pensionat war ein schrecklicher Fraß!
»Doch«, erklärte sie schnell.
Fräulein Claasen fuhr streng fort: »Und warum müssen Sie dann Ihren Griffel aufessen?«
Aus dem Mund einer anderen hätte dieser Tadel Humor verheißen, doch Fräulein Claasens Lippen blieben schmal. Frau Miesepeter, nannten Claire und sie die Erzieherin oft – und Valeria bedauerte zum wiederholten Mal, dass Claire keine Schülerin des Pensionats mehr war. Claire hätte sie abschreiben lassen, während die anderen Mädchen nicht daran dachten und sie nun wegen Frau Claasens Tadel höhnisch angrinsten.
Valeria schluckte ihren Ärger hinunter und tat, als würde sie demütig zu Boden blicken. Das Kleid von Frau Claasen war bodenlang – und aus dem Saum hatte sich ein Faden gelöst. Nur mühsam unterdrückte Valeria ein Auflachen. Fräulein Claasen sah nicht nur wie eine Krähe aus, sondern war immer akkurat frisiert und gekleidet, und der heutige Makel brachte Valeria auf eine Idee. Wenn Claire hier gewesen wäre, hätte sie sie gewiss davon abgehalten, aber so spann sie den Gedanken weiter.
Ehe sie den Plan allerdings in die Tat umsetzen konnte, ging Fräulein Claasen schon weiter.
Valeria seufzte und tat so, als würde sie den Stift kreisen lassen. Es war ja noch schwerer, diesen Aufsatz zu schreiben, als Briefe an ihre Eltern zu verfassen!
Auch dann saß sie meistens vor einem weißen Blatt Papier, denn sie hatte Rosa und Albert Gothmann nichts zu sagen, zumal deren Briefe nur mit Phrasen gefüllt waren. Immer wieder verliehen sie ihrer Hoffnung Ausdruck, dass es ihr gutginge, dass sie Fortschritte machte und dass sie ihnen Ehre einbrachte, doch Valeria hatte nicht das Gefühl, dass es sie wirklich interessierte. Wegen ihrer Streiche wurde sie von der hiesigen Direktorin oft bestraft – niemals aber, wenn sie im Sommer und zu Weihnachten nach Hause kam, obwohl man dort von ihren Schandtaten wusste. Ohne Zweifel – es war schrecklich langweilig im Mädchenpensionat, aber noch unerträglicher war es zu Hause. Sie war jedes Mal froh, wenn die Schule wieder begann und sie der kühlen Atmosphäre entfliehen konnte, zumindest solange sie Claire im Pensionat an ihrer Seite wusste.
Dieses Jahr war leider alles anders: Nach dem Tod ihrer Mutter war Claire in Hamburg bei ihrem Vater geblieben und half ihm dabei, den Haushalt zu führen. Valeria stellte sich das schrecklich öde vor, und sie hatte auch nie verstanden, dass Claire ihren Vater von Herzen liebte und seine Nähe genoss.
Fräulein Claasens Schritte kamen näher, und natürlich blieb sie wieder neben Valeria stehen. »In einer halben Stunde ist Abgabe«, mahnte sie.
Und sie hatte noch keinen Satz geschrieben!
Sei’s drum, dachte sie trotzig und stieg auf den Faden, der von Fräulein Claasens Kleid hing. Als diese weiterging, trat ein, was sie erhofft hatte: Der Saum begann, sich aufzutrennen.
Valeria grinste, und die anderen Mädchen taten so, als hätten sie nichts gesehen. Sie mochten Valeria nicht, doch Fräulein Claasen mochten sie noch weniger. Keine hatte sich jemals an einem von Valerias Streichen beteiligt – aber insgeheim hatten sich alle darüber gefreut.
Nur Claire hätte sie dafür getadelt. Claire war immer die Vernünftigere gewesen, schon als Kind: Beim Baumplündern zu Weihnachten hatte sie sich stets vornehm zurückgehalten, und bei der Ostereiersuche hatte sie nur nach Verstecken Ausschau gehalten, die angemessen waren, während Valeria die Gelegenheit genutzt hatte, auf Bäume zu klettern und in der Vorratskammer Unfug anzustellen. Einmal war sie in ein leeres Fass gekrochen und fast nicht mehr herausgekommen. Claire war auch immer viel sauberer gewesen und trug ihr weißes Mullkleid mit Schärpe ohne Widerwillen. Nie war es beim Spiel irgendwo
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