Die Rosen von Montevideo
waren und wo sich das Leben vor allem im Erdgeschoss hinter Fenstern mit Eisengittern abgespielt hatte. Das neue Anwesen hatte nur einen großen Hof, von dem aus eine Treppe in den ersten Stock führte. Dort befanden sich Räume mit hohen Fenstern und Balkonen, desgleichen der Aufstieg zu einem Turm, der wiederum in einem luftigen Zimmer mündete, von dem man nach allen Seiten hin die Stadt überblicken konnte. Eine noch bessere Aussicht bot sich offenbar auf dem Dach.
»Die Dächer hierzulande sind flach«, sagte Julio, »und mit Ziegeln belegt. Man kann sie am Abend zur Erfrischung betreten. Vor allem die alten Damen, die kaum noch das Haus verlassen, nutzen die Gelegenheit, über die Brüstung hinab auf die Straße zu schauen und über alles zu klatschen, was dort vor sich geht. Als wir hier einzogen, waren meine Tanten Orfelia und Eugenia allerdings schon tot. Ich bin mir auch nicht sicher, ob sie sich überhaupt die Mühe gemacht hätten, ihre Leiber die Treppe hochzuwuchten.«
Er lachte despektierlich, woraufhin Carl-Theodor tadelnd die Miene verzog und sichtlich nichts Lustiges daran finden konnte. »Und was ist mit dem alten Haus geworden?«, wollte er wissen.
»Das ist mittlerweile eine Bank. In der Ciudad Vieja siedeln sich immer mehr Banken an. Die braucht es auch, so wie die Geschäfte zurzeit laufen. So schnell wie heutzutage konnte man noch nie reich werden.«
»Obwohl Krieg ist?«, erkundigte sich Carl Theodor.
»Ach, im Moment ruhen die Waffen – alle Seiten sind erschöpft und begraben ihre Gefallenen.«
Valeria hatte so gehofft, dass das Thema Krieg endlich erledigt war, doch Claire fragte neugierig: »Ich habe immer noch nicht verstanden, warum man überhaupt Krieg gegen Paraguay führt!«
»Nun, Paraguay wird vom Diktator Lopez regiert – besagter Attila Südamerikas. Wie Vater schon meinte – man tut ihm zu viel Ehre an, wenn man ihn so nennt. Letztlich ist er nur ein Wichtigtuer, dem es um Einfluss geht. Er allein ist schuld an diesem Krieg, den Paraguay gegen Brasilien, Argentinien und unser Land führt – er hat ihn regelrecht provoziert!«
Eben hatten sie nach der Hausbesichtigung wieder den Empfangssaal erreicht, wo Alejandro auf sie gewartet hatte, und kaum vernahm er den Namen des Feindeslandes, brüllte er aufs Neue los: »Francisco Lopez ist doch nur in den Krieg gegen Brasilien eingetreten, weil der dortige Kaiser ihm die Hand einer seiner Töchter verweigert hat!«
Julio seufzte: »Das ist Unsinn, Vater, und das weißt du auch. In jedem Fall hoffe ich, Francisco Lopez wird bald erledigt sein. Aber wir wollen die Frauen nicht länger mit Politik langweilen, sondern ihnen lieber eine Erfrischung anbieten und das Zimmer zeigen. Ich sehe – Leonora und Isabella sind von den Einkäufen zurück.«
Julios Frau war eine wuchtige Matrone mit Doppelkinn, kleinen, dicken Fingern, völlig verschwitzt und erbärmlich schnaufend. Trotz ihrer Kurzatmigkeit redete sie viel – und anders als Alejandro bekundete sie laut ihre Freude, Valeria zu sehen, Rosas Kind. Sie hatte Rosa nie kennengelernt, erklärte sie bedauernd, weil Julio sie erst lange nach deren Hochzeit mit Albert Gothmann geheiratet hatte, aber viel von ihr gehört. Was beneidete sie die unbekannte Schwägerin dafür, dass sie in Europa leben konnte!
Während sie gar nicht zu schwatzen aufhörte, blieb das Mädchen an ihrer Seite völlig stumm. Erst als Valeria auffällig in ihre Richtung starrte, stellte sie sich schüchtern als Isabella vor, ihre Cousine.
Sie war – vor allem im Vergleich zur wuchtigen Mutter – nahezu dürr und schrecklich unscheinbar, aber das freundliche Lächeln wirkte, anders als das theatralische ihrer Mutter, echt.
»In Europa sind die Frauen viel vornehmer als hierzulande«, rief Leonora mit einer schrillen Stimme. »Und sie sind eleganter gekleidet! Das sieht man auch an euch beiden.«
Begierig musterte sie Claire und Valeria. Obwohl deren Reisekleidung aus braunem Stoff nicht unbedingt kleidsam war, erweckte sie offenbar Leonoras Neid.
»Du solltest dir ein Beispiel an deinen Cousinen nehmen, Isabella«, ermahnte sie ihre Tochter, »und dir in den nächsten Wochen so viel wie möglich von ihnen abschauen.«
Isabella errötete verlegen, und Valeria war froh, dass Julio einschritt und die Gäste in den Salon brachte, wo Limonade für die Frauen und Sherry für die Herren serviert wurde sowie Unmengen an süßem Gebäck, das an den Zähnen klebte.
Valeria hatte keinen Appetit.
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