Die Rosen von Montevideo
führen, als sie es gewohnt war. Hier würde sich ihr künftiges Schicksal entscheiden – und sie erwachsen werden.
Espe hatte Valeria einst viele Geschichten von Alejandro de la Vegas erzählt und ihn als stolzen, strengen, halsstarrigen Mann beschrieben, weswegen Valeria auf eine entsprechend herrschaftliche Erscheinung gefasst war. Als Alejandro und Julio sie begrüßten, war sie jedoch enttäuscht: Alejandro hatte nichts mit einem respekteinflößenden Despoten gemein, sondern war ein alter, ziemlich gekrümmter Mann, aus dessen rechtem Mundwinkel ständig Speichel floss. Vor allem schien er recht wirr im Kopf zu sein.
Sein Willkommensgruß fiel denkbar knapp aus, und dass nicht nur Claire Carl-Theodor begleitete, sondern auch seine Enkeltochter, die er noch nie gesehen hatte, schien ihn wenig zu interessieren. Stattdessen begann er eine ausufernde Rede, die ständig um Attila kreiste.
Valeria war nicht so gebildet wie Claire, glaubte jedoch vage zu wissen, dass der ein legendärer Hunnenkönig gewesen war.
»Gott verfluche ihn, den Hurensohn!«, rief Alejandro.
»Was hat er denn gegen den Hunnenkönig?«, fragte sie verwirrt. Ihres Wissens hatte der zwar halb Europa verwüstet, war aber mit seinen kriegerischen Horden bestimmt nicht durch Uruguay gestürmt.
Erstmals schaltete sich Julio ein – ein Mann mit Schnauzbart, füllig um die Taille, wachen Augen und dunklen Ringen darunter, von denen nicht klar war, woher sie kamen: ob von der überreichen Arbeit, mit der er sein Geld verdiente, oder von zwielichtigen Vergnügungen, bei denen er dieses Geld wieder ausgab.
»Er redet nicht vom Hunnenkönig, sondern von Francisco Solano Lopez«, erklärte er. »Der wiederum ist der Diktator von Paraguay. In den argentinischen Zeitungen wurde er schon mehrmals als Attila Südamerikas bezeichnet.«
Alejandro knurrte unwillig: »Wobei es eigentlich der Ehre zu viel ist, ihn Attila zu nennen. Attila fegte wie ein Sturm über Europa, aber diesen Solano werden wir bald mundtot machen und sein Heer vernichtend schlagen. Wie eine Schlange werden wir ihn töten.«
Valeria unterdrückte ein Gähnen. Claire hatte ihr auf der Reise ausführlich von einem Krieg erzählt, in dem Uruguay sich befand und der offenbar gegen besagten Diktator geführt wurde, aber sie hatte keinerlei Interesse, noch mehr darüber zu hören. Als Julio einwandte, dass jetzt nicht die rechte Zeit sei, um über den Krieg zu sprechen, sondern er den Gästen lieber das Haus zeigen wolle, war sie sehr erleichtert.
Die de la Vegas’ bewohnten seit einigen Jahren ein neues Haus in der Avenida 18 de Julio. Wie viele Angehörige der Oberschicht hatten sie die Altstadt verlassen, nachdem dort 1857 eine Gelbfieberepidemie grassierte. Julio war sichtlich stolz auf das Anwesen und prahlte überdies damit, dass es nicht das einzige war: »Wir besitzen natürlich auch ein Sommerhaus – es liegt einige Meilen außerhalb Montevideos. In Paso de Molino. Dort genießen wir die Ruhe, die kühle Luft – und dass man nur mit besten Nachbarn zu tun hat.«
Mit den besten meinte er wohl vor allem die reichsten.
Er zwinkerte ihnen zu: »Es ist schon merkwürdig. Die Hacienderos auf dem Land legen zunehmend Wert darauf, ihren Wohnsitz in die Hafenstadt zu verlegen – während es umgekehrt Montevideos Kaufleute auf das Land zieht und sie ihr Kapital dort anlegen.«
Wieder zwinkerte er – diesmal eindeutig in Carl-Theodors Richtung. Die Bemerkung diente offenbar dem Zweck, ihm vor Augen zu halten, wie gut trotz des Krieges die Geschäfte liefen und einen teuren Hauskauf ermöglichten.
Valerias Müdigkeit verflüchtigte sich. Das Gerede von Geld fand sie langweilig, aber das Haus faszinierte sie. Die Räume waren dunkler, als sie es von ihrem lichten Landhaus im Taunus gewohnt war, aber keineswegs ärmlicher.
Julio sonnte sich in ihrem unverhohlen bewundernden Blick. »Wir haben das Haus natürlich nach britischem Vorbild bauen lassen. Die Südamerikaner verstehen ja nicht viel von Architektur. Stellt euch vor – in den meisten ihrer Häuser gibt es nicht einmal Rauchabzüge, denn die Menschen befürchten, dass Feuchtigkeit und Kälte auf diese Weise Einzug halten. Was für ein Unsinn! Man muss nur wissen, wie man richtig heizt.«
Er wusste es offenbar ganz genau, so eingebildet, wie er lachte.
Espe hatte Valeria einmal das einstige Heim der de la Vegas’ beschrieben, das demnach aus mehreren Häusern bestanden hatte, die durch Innenhöfe verbunden
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