Die Rosenzüchterin - Link, C: Rosenzüchterin
Nächten unter englischen Bombern. Die einen sagten, Amerika werde bald in den Krieg eintreten, andere behaupteten, das werde nie geschehen. Churchill plane eine Invasion auf dem Festland, behaupteten manche, und andere sagten, dies sei absurd, denn
Churchill könne niemals genügend Truppen mobilisieren. Die Wogen gingen hoch, aber obwohl niemand etwas Genaues sagen konnte, schien doch eine neue Bewegung in den Krieg gekommen zu sein: Auf eine noch undefinierbare Weise hatte sich die von Siegen getränkte Aura der Deutschen verändert. Sie verlor an Glanz. Die Nazis hatten geglaubt, nichts und niemand werde sie aufhalten können, und nun schien das keineswegs mehr sicher. Die Deutschen erwiesen sich als verletzbar.
»Das Glück war lange Zeit auf ihrer Seite«, sagte Dr. Wyatt, »aber niemand hat das Glück auf ewig gepachtet. Es geht aufwärts und abwärts. Für die Nazis wie für uns alle.«
Beatrice hielt sich noch häufiger als früher bei den Freunden auf, denn Erich war nach wie vor oft auf dem französischen Festland, und Helene versuchte zwar, sie daheim zu halten, wagte es aber nicht, ein Verbot auszusprechen. Beatrice merkte, daß Mae wegen Julien eifersüchtig war; bisher hatte sie als einzige Nicht-Erwachsene von dem Versteck gewußt, und nun war auch Beatrice eingeweiht. Zudem verbrachte Beatrice mehr Zeit mit ihm oben auf dem Dachboden als mit Mae beim Plaudern, Kichern und Spazierengehen. Sie unterhielt sich stundenlang mit ihm, fragte ihn englische Vokabeln ab und ließ sich von ihm Französisch beibringen. Er las ihr Victor Hugo vor und erzählte, daß der französische Dichter lange Zeit auf Guernsey gelebt habe.
»Lies weiter«, bat sie, denn sie fand Notre-Dame von Paris , die Geschichte des Glöckners Quasimodo, so spannend, daß sie die Lektüre keinen Moment lang unterbrechen wollte.
»Ich glaube, mich kennst du bald gar nicht mehr«, klagte Mae eines Tages gekränkt, als Beatrice zu Besuch kam, kurz grüßte und in Richtung Dachboden strebte. »Du beachtest mich überhaupt nicht! «
»Ich habe Julien versprochen, daß ich...«, fing Beatrice an, aber Mae schrie: »Julien, Julien, Julien! Du denkst ja an nichts anderes mehr! Weißt du, was ich glaube? Du bist verliebt in Julien, das ist es! Du bist total verknallt, und deshalb rennst du ständig zu ihm hin!«
»Also, soviel Unsinn hast du schon lange nicht mehr geredet«, entgegnete Beatrice verärgert, aber Maes Worte gingen ihr für den
ganzen Rest des Tages durch den Kopf. Sie hat recht, dachte sie, und diese Erkenntnis erschütterte sie fast. Natürlich war sie verliebt in ihn, das war das eigenartige Gefühl, das sie seit einiger Zeit erfüllte. Seitdem Julien sie am Tag seiner Flucht so eigenartig angesehen hatte, war etwas verändert in ihr, aber sie hatte nicht recht gewußt, was es war. Jetzt, da sie es einordnen konnte, steigerte sich die Spannung fast ins Unerträgliche. Sie ging nach Hause, schloß sich in ihrem Zimmer ein und betrachtete sich in dem Spiegel über der Kommode, versuchte, sich mit den Augen Juliens zu sehen. Sie blickte auf ein großes, dünnes Mädchen mit schlaksigen Armen und Beinen, mit einem schmalen Gesicht, das ihr unfertig vorkam und etwas zu spitz. Sie hatte etwas schräg gestellte Augen - »Katzenaugen« sagte Helene immer -, die ernst und leicht skeptisch dreinblickten. Sie wirkte älter als Mae, fand sie, überhaupt älter als ein dreizehnjähriges Mädchen. Sie mochte ihre welligen, dunkelbraunen Haare nicht, sie waren zu dick, zu widerspenstig, zu wild und zerzaust, statt fein und seidig.
Sie seufzte, drehte sich ein wenig, um sich im Profil zu betrachten, strich die Haare zurück, versuchte ein kokettes Lächeln, das völlig mißlang. Sie war nicht der Typ für Koketterie, ahnte, daß sie es nie sein würde.
Sie überlegte einen Moment, dann streifte sie langsam ihr Kleid von den Schultern. Es war eines von Helenes Sommerkleidern; Helene hatte es für sie geändert. Beatrice wußte, daß es ihr stand, deshalb trug sie es gern, wenn sie Julien besuchte. Das sanfte Grün ließ ihre Augen schillern und zauberte einen kastanienfarbenen Schimmer in ihre Haare. Jedenfalls hatte Julien das behauptet. Sie selbst konnte nichts dergleichen wahrnehmen, aber es reichte, wenn Julien es sah.
Das Kleid rutschte zur Hüfte hinab, fiel an den Beinen entlang auf den Boden. Zögernd zog sie das leinerne Unterhemd über den Kopf, betrachtete zuerst scheu, dann kritisch ihren knochigen Oberkörper, die
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