Die Rosenzüchterin - Link, C: Rosenzüchterin
und sie registrierte, daß sie ihn diesmal wirklich schockiert hatte. Er wurde nervös, wenn er sie im Haus nicht sofort fand oder wenn sie auf sein Rufen nicht antwortete; manchmal war sie so tief in Gedanken versunken, daß sie ihn nicht hörte, obwohl sie keineswegs schlief, sondern aus dem Fenster starrte oder vor dem Kamin Wärme zu finden suchte. Erich schimpfte entsetzlich auf Will, so als habe dieser alles zu verantworten, aber Helene erklärte, Will trage nicht die geringste Schuld, und sie wolle nicht, daß er die Familie verließ. Es war einer der wenigen Momente ihres Lebens, da sie Erich entgegentrat und einen Wunsch äußerte, und es kam zu dem ebenso seltenen Fall, daß Erich ihren Wunsch respektierte. Seine Depressionen machten ihm zu schaffen, er schluckte Unmengen von Tabletten und war heftigen Stimmungsschwankungen ausgesetzt. Helene brauchte eine ganze Weile, um herauszufinden, daß er sich zunehmend zu Beatrice flüchtete, wenn es ihm schlechtging.
Bis heute erinnerte sie sich an den heißen Schrecken, der sie durchfuhr, als sie erkannte, daß sich eine eigenartige Gemeinschaft zwischen ihrem Mann und dem zwölfjährigen Mädchen anbahnte. Es schien keinerlei sexuelle Annäherung zwischen den beiden
zu geben, und Helene hielt es auch für unwahrscheinlich, daß es dazu kommen könnte; sie kannte Erichs Moralvorstellungen und wußte, daß er Beatrice nicht anrühren würde. Er hatte es auf etwas anderes abgesehen: Er wollte sie zu seiner Vertrauten machen, zu seiner Komplizin, wollte ihr Verständnis und ihre Zuneigung gewinnen.
Die Eifersucht traf Helene mit der Gewalt eines Faustschlags, aber ihre Gedanken kreisten dabei nicht um Erich, sondern um Beatrice. Erichs Launen und Unberechenbarkeit erschöpften sie immer mehr, und es war ihr nur recht, wenn er sich einen anderen Menschen suchte, bei dem er sich ausweinen und austoben konnte. Aber Beatrice sollte es nicht sein. Beatrice gönnte sie ihm nicht. Beatrice gehörte ihr, und er sollte aufhören, sie in Besitz nehmen zu wollen.
Sie hatte den Tag noch immer lebhaft in Erinnerung, an dem sie zufällig ein Gespräch zwischen den beiden mit angehört hatte. Es war ein Januartag gewesen, im Jahr 1941, ein Tag wie der heutige, mit kaltem Wind und jagenden Wolken. Helene hatte lange geschlafen und war am späteren Vormittag die Treppe hinuntergekommen; sie trug einen Bademantel und fror wie stets seit jenem Tag im September, und sie war dabei, sich resigniert damit abzufinden, daß sie wohl frieren würde, solange sie lebte. Sie sehnte sich nach einer Tasse heißem, starkem Kaffee, aber als sie die Tür zum Eßzimmer öffnen wollte, hielt sie inne, denn sie vernahm Erichs Stimme dahinter. Helene war verwundert, denn sie hatte geglaubt, er sei längst fort.
»Es ist die Kälte«, sagte er gerade, womit er ironischerweise eine Empfindung ansprach, die auch Helene ständig beschäftigte. »Es ist die fürchterliche Kälte in mir. Und die Leere. Es wird nie enden.«
»Ich weiß nicht mehr, was ich dazu sagen soll, Sir. Wir haben schon so oft darüber gesprochen.« Das war Beatrice. Sie sprach deutsch, mit starkem Akzent noch, aber weitgehend fehlerfrei.
Wie schnell sie lernt, dachte Helene bewundernd, was für ein intelligentes Ding sie doch ist.
Das Gefühl der Bewunderung überschwemmte sie mit einer Wärme, wie sie selten und kostbar für sie geworden war, aber zugleich
zog sich ihr Magen plötzlich zusammen, in einem kurzen, bösartigen Schmerz. Sie hatten schon so oft darüber gesprochen. Er vertraute sich ihr also an. Vertraute ihr die Dämonen in seinem Innern an, die Feinde in seinem Kopf, die quälenden Gedanken, die ihn so häufig heimsuchten. Und sie ließ es geschehen, öffnete sich ihm, schenkte ihm Zeit und Verständnis und sprach mit sanfter Stimme zu ihm.
»Es ist ja nicht so, daß ich kein Ziel hätte«, sagte Erich, »natürlich habe ich ein Ziel. Wir Deutschen haben es alle. Wir führen einen großen Kampf um eine neue Weltordnung, und dieser Kampf ist die Aufgabe, der ich diene. Damit hat mein Leben einen Sinn. Es ist ein großartiger Sinn, findest du nicht? Ein großartiger und wichtiger Sinn.«
Beatrice erwiderte darauf nichts — wie sollte sie auch, dachte Helene, als Bürgerin eines besetzten Landes —, aber sie sah ihn vermutlich aus ihren schönen Augen sehr aufmerksam an.
Verzweifelt fragte Erich: »Warum kann ich den Sinn nicht fühlen? Ich kenne ihn, mein Kopf und mein Verstand kennen ihn, aber ich kann ihn nicht
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