Die Rosenzüchterin - Link, C: Rosenzüchterin
spüren! Ich fühle Sinnlosigkeit. Das ist absurd. Absurd und widersinnig angesichts der großen Aufgabe, die mich ganz und gar ausfüllt. Ich verstehe nicht, wie das sein kann. Wenn ich es verstehen könnte, dann wäre es vielleicht einfacher.«
Helene entfernte sich mit weichen Knien von der Tür, setzte sich auf die unterste Treppenstufe. Sie konnte nicht genau ausmachen, was Beatrice erwiderte; irgend etwas sagte sie, etwas Ausweichendes, denn sicher gab sie nicht die Antwort, die sich aus der Situation heraus von selbst eröffnete, die aber vielleicht von einem zwölfjährigen Kind nicht erfaßt werden konnte: daß die große Aufgabe, die Erich beschwor, zweifelhaft genug war, daß sie ihn mehr belastete, als er wahrhaben wollte, nicht unbedingt in einem moralischen Sinn, aber in der Hinsicht, daß man ihres positiven Ausgangs nicht unbedingt gewiß sein konnte.
Er hat Angst, dachte Helene auf einmal mit einer Klarheit, von der sie wußte, es war die Klarheit des richtigen Instinkts, er hat panische Angst vor dem Ende, und er flüchtet in die Depression, um die Angst nicht sehen zu müssen.
Die Tür ging auf, und Erich kam heraus, er war blaß, und seine
Augen waren rot gerändert von Müdigkeit. Helene wußte, daß er kaum schlief in den Nächten.
»Ach, Helene«, sagte er, nicht wirklich verwundert, sie dort vorzufinden, »was tust du hier? Du wirst dich erkälten.«
»Ich wollte frühstücken. Aber mir wurde schwindlig, und ich mußte mich setzen.«
»Nimmst du die Eisenpräparate, die Dr. Mallory dir verschrieben hat?« Er beugte sich zu ihr herunter, hauchte ihr einen Kuß auf die Stirn. »Ich muß gehen. Beatrice ist da. Sie wird dir Gesellschaft leisten beim Frühstück.«
Er hielt die Schultern gestrafft, den Kopf hoch erhoben, als er den Flur durchquerte und hinaus ins Freie trat. Es mochte ihn mehr Mühe kosten, als es den Anschein hatte. Helene wußte, was sein steifer Nacken, sein durchgedrückter Rücken bedeuteten: Er brauchte alle Willenskraft, den stattlichen Offizier herauszukehren und niemanden merken zu lassen, daß es ihm wirklich dreckig ging.
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß, gleichzeitig kam Beatrice aus dem Eßzimmer. Sie sah hübsch aus an diesem Morgen. Der Ausdruck ihres Gesichts zeigte eine Reife, die nicht ihrem Alter entsprach.
»Warum«, fragte Helene scharf, »bist du nicht in der Schule?«
»Wir fangen heute später an. Der Deutschunterricht fällt aus.«
Deutsch war als Pflichtfach an allen Schulen der Inseln eingeführt worden, aber es gab zu wenige Lehrer, und die Stunden fanden nur sporadisch statt.
»Aha. Warum fällt er aus?«
»Die Lehrerin ist krank. Grippe. Und Ersatz ist nicht da.«
Helene erhob sich mühsam; sie mußte sich am Treppengeländer festhalten.
»Und anstatt einmal, nur einmal, nach mir zu sehen, plauderst du fröhlich und stundenlang mit Erich«, stieß sie hervor.
Beatrice sah sie überrascht an. »Wir haben eine Viertelstunde geredet. Nicht länger.«
»Mit mir hast du heute überhaupt noch nicht geredet. Nicht einmal eine Viertelstunde!«
»Sie haben noch geschlafen.«
»Wer sagt das?« Helenes Stimme wurde lauter und nahm einen schrillen Ton an. »Wer sagt dir, daß ich geschlafen habe? Daß ich nicht wach gelegen und gehofft habe, irgend jemand kommt und sieht nach mir!«
»Das konnte ich nicht wissen«, antwortete Beatrice höflich und zugleich der ganzen Angelegenheit überdrüssig. »Tut mir leid.«
»Oh — es tut dir kein bißchen leid!« schrie Helene. »Ich spiele keine Rolle in deinem Leben! Ich frage mich nur, warum du mich damals nicht hast sterben lassen. Es wäre besser für uns alle gewesen! «
Beatrice erwiderte nichts, und Helene drehte sich um und stürzte die Treppe hinauf.
»Ich kann es wieder tun! Ich werde es wieder tun!« Sie verschwand im Bad, schlug die Tür zu und schob den Riegel vor. Schwer atmend sank sie auf den Rand der Badewanne und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Es war eine kühle Feuchtigkeit, ein kalter Film, der sich bei jeder heftigen Bewegung weiter ausbreitete.
Es erfüllte sie mit Genugtuung, Beatrice die Treppe heraufjagen zu hören. Sie rüttelte an der verschlossenen Tür. »Helene, machen Sie auf! Bitte! Kommen Sie raus!«
Helene gab keine Antwort. Sie ließ Beatrice eine ganze Weile bitten und drohen und rührte sich nicht. Schließlich verschwand Beatrice und kehrte mit Pierre zurück, der die Tür eintrat. Das Holz splitterte, und der Riegel löste sich aus der
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