Die Rosenzüchterin - Link, C: Rosenzüchterin
Kein Mann kann es. Eine Frau, die bei diesen Temperaturen ohne Mantel herumläuft, nur damit jeder ihre Brüste und ihre Beine sehen kann, ist nichts wert!
Er erschrak vor seinen Gedanken. Noch nie war er in der Beurteilung ihrer Person so gnadenlos gewesen, und er bereute die Härte, mit der er sie bedacht hatte. Er war ungerecht. Sie war jung und lebenslustig, sie machte eine Menge Dummheiten, aber alle jungen Leute machten das, die einen mehr, die anderen weniger, und Maja vielleicht etwas mehr... Aber er durfte sie deswegen nicht als wertlos bezeichnen, die Frau, nach der er sich so sehnte, die er so sehr begehrte ...
»Mein Flug geht erst in zwei Stunden«, sagte er«, »willst du einen Kaffee mit mir trinken?«
Sie überlegte kurz. »Hast du dein Auto in der Nähe? Wir könnten an einen Strand fahren. Ich liebe das Meer an Tagen wie diesem. «
Er kramte seine Autoschlüssel hervor. »Okay. Fahren wir.«
Manchmal fragte sich Helene, weshalb sie unbedingt hatte in Guernsey bleiben müssen. An Tagen wie diesem fragte sie es sich mit besonderer Ratlosigkeit. Der bleigraue Himmel bedrückte sie,
das Heulen des Windes, der Anblick der kahlen Baumzweige im Garten, die sich duckten unter der Wucht des Sturms. Aus irgendeinem Grund fühlte sie Heimweh an einem Tag wie diesem; Heimweh nach einem Land, das sie seit über einem halben Jahrhundert nicht mehr betreten hatte. An den warmen, stillen, blühenden Tagen tröstete Guernsey sie über den Verlust Deutschlands hinweg. An den dunklen und kalten Tagen aber war es, als breche eine alte, schlecht vernarbte Wunde auf. Dann dachte sie an Berlin, an das alte Haus, an die vertrauten Straßen, an Wege, die sie gegangen war, an Menschen, die sie gekannt hatte. Freundinnen aus der Schule, Männer, mit denen sie sich getroffen hatte, bevor Erich aufgetaucht war. Unschuldige Liebeleien, ein paar hingehauchte Küsse und romantische Spaziergänge im tief verschneiten Grunewald. Nichts hatte sich vertieft; erst mit Erich war sie eine ernsthafte Verbindung eingegangen. Aber heute, im nachhinein, erschien ihr manche dieser längst vergangenen Begegnungen wie eine verpaßte Gelegenheit, eine Chance auf ein anderes Leben, die sie hatte verstreichen lassen und die nun unwiderruflich dahin war. Albern natürlich, überhaupt daran zu denken, in ihrem Alter, da nun wirklich alles zu spät war. Beatrice würde sagen, sie solle nicht ihre Energie verschwenden, indem sie über Dinge grüble, die sie nicht ändern könne, oder die der Vergangenheit angehörten. Aber Beatrice war einfach anders: pragmatisch, nüchtern, auf eine fast radikale Weise darauf ausgerichtet, den Blick nach vorn zu halten. Beatrice ließ finstere oder trübe Gedanken nicht zu. Oder verbarg sie schlechte Stimmungen nur besser?
Helene verließ ihr Zimmer, in dem sie unruhig auf und ab gegangen war und ein wenig Ordnung zu schaffen versucht hatte, aber im wesentlichen hatte sie nur ein paar Dinge von einer Stelle zur anderen getragen, und es hatte sich nichts verändert.
Sie ging die Treppe hinunter, lauschte, ob sie irgendwo im Haus ein Geräusch vernahm, das auf die Anwesenheit eines anderen Menschen hindeutete. Aber alles blieb still. Beatrice war vermutlich zum Einkaufen gefahren, das tat sie oft um diese Zeit. Helene ging ins Wohnzimmer. Der Raum wurde den ganzen Tag über geheizt und war gemütlich warm, aber Helene überlegte, ob sie dennoch zusätzlich den Kamin anzünden sollte, da sie den Anblick der
Flammen und das Knistern der Scheite immer als so beruhigend empfand.
Erich hatte diesen Kamin bei jeder Gelegenheit beheizt. An nebligen Wintertagen wie an kühlen Sommerabenden. Sie mußte plötzlich an den ersten Herbst auf Guernsey denken, an die Wochen nach ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus. Sie war sehr elend gewesen, schwach und angegriffen, und der Oktober und November hatten kein warmes Altweibersommerwetter gebracht, sondern eine für die Region ungewöhnliche Kälte und überdies Regentage ohne Ende. Lange Zeit war es ihr nicht gelungen, sich zu erholen; wegen der schlechten Witterung, aber vielleicht auch deshalb, weil ihre Seele den Körper im Gesundwerden nicht unterstützen konnte. Sie war deprimiert, hatte Heimweh und fand sich in sich selbst nicht zurecht.
Das einzig Schöne an dieser Zeit war, daß sich Erich mit sehr viel mehr Fürsorge als sonst um sie bemühte. Er machte ihr zwar Vorhaltungen wegen ihrer Tat, aber er vermied es dabei, in einen wirklich scharfen Ton zu verfallen,
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