Die rote Agenda
wegen des
ständigen Kampfes zwischen den beiden Meeren eine gefährliche Wasserstraße.
Hier trafen gewaltige Strömungen aufeinander, die man garofani nannte. Gefürchteter von beiden war der garofano der
Charybdis, der sich vor der Küste von Faro auf Sizilien bildete; der garofano von Skylla dagegen befand sich vor der
kalabrischen Küste. Charybdis war so stark, dass kleinere Schiffe oft ernsthaft
in Gefahr gerieten. Nach der Sage waren Skylla und Charybdis einst strahlende
Göttinnen gewesen, die von Zeus in Meeresungeheuer verwandelt worden waren und
von da an die Seefahrer verschlangen.
Betta fiel
ein, dass ihre Mutter, wenn sie in einer Zwickmühle war, mit dramatischer
Stimme ausrief: »Ich bin [383] zwischen Skylla und Charybdis!« Vielleicht lag in
dieser Redensart, die auf dem ganzen Stiefel gebraucht wurde, der tiefste Sinn
der Einheit Italiens.
Betta ging
zurück in ihr Zimmer, schloss die Glastür und schaltete die Klimaanlage ein.
Sie dachte an die Ereignisse der letzten Stunden zurück, und sie schienen ihr
nicht nur grotesk, sondern fast irreal. Hatte wirklich jemand versucht, sie zu
entführen? Wo war ihr Mann in der letzten Nacht gewesen? Hatte das Medium recht
mit der Behauptung, Lorenzo führe ein Doppelleben?
Nun hätte
auch sie, wie ihre Mutter, die Augen zum Himmel heben und Skylla und Charybdis
anrufen können. Auch sie befand sich in einer Art Trichter und drohte von
Ungeheuern verschlungen zu werden.
Sie warf
die Broschüre auf den Tisch und schaltete ihr Handy ein. Auf der Mailbox waren
zwei Anrufe von Lorenzo und einer von Elvira. Sie ignorierte die Anrufe ihres
Mannes und rief ihre Freundin zurück.
»Wo bist du
denn abgeblieben?«, brach es aus Elvira heraus. »Lorenzo hat mich angerufen,
weil er wissen wollte, wo du steckst. Er ist sehr besorgt, ich habe ihn noch
nie so erlebt. Was ist denn los?«
»Nichts.
Wir haben uns gestritten, und ich will ein bisschen für mich sein. Jedenfalls
bin ich jetzt in Messina, doch das darfst du Lorenzo auf gar keinen Fall
verraten, wenn er dich noch einmal anrufen sollte.«
»Wie du
willst, aber du musst mir alles erklären. Ich bin auch schon in Messina. Wollen
wir uns gleich treffen, um zusammen zur Einweihung zu gehen?«
»Ebendeshalb
rufe ich dich an. Komm doch zu mir ins [384] Hotel, das Royal Palace. Wir essen
eine Kleinigkeit und gehen dann zusammen los.«
»Wunderbar!
Gib mir die Adresse.«
Betta, die
nicht die leiseste Ahnung hatte, wo sie eigentlich war, nahm die Broschüre des
Hotels und las ihrer Freundin die Adresse vor.
»Phantastisch,
mein Hotel ist nur fünf Minuten zu Fuß entfernt! Ich hätte mit Leonella essen
sollen, aber ich denke mir eine Ausrede aus. Ich bin gleich bei dir.«
[385] 60
Die
Ehrentribüne war für hohe Tiere aus der Politik – Minister, die aus Rom
gekommen waren, sowie sizilianische Honoratioren – reserviert und stand ganz in
der Nähe der Auffahrt zur Brücke, nicht weit von der Via Circuito und dem
Stützpfeiler.
Die
nördliche Zone der Stadt, der es in der Vergangenheit gelungen war, der
Spekulationswut der Cosa Nostra zu entgehen, um dann in die Klauen der
Brückenbauer zu geraten, hatte den Ankerblock aufgenommen. Ein Teil des
Friedhofs war verlegt worden, wie von einem Tsunami fortgespült, während der
tragende Pfeiler auf einem Gebiet des Wohnkomplexes Due Torri und auf der
Straße, die die Fischerdörfer an der Meerenge miteinander verband, hochgezogen
worden war. Der Tunnel der Bahnstrecke mündete hingegen im städtischen Viertel
zwischen der Via Santa Cecilia, der Via Aurelio Saffi und der Via Giuseppe La
Farina.
Auch die
Eisenbahn über die Brücke zu führen war von jenen Geologen und Experten, deren
Interesse tatsächlich dem Schutz der Menschen und der Umwelt galt, als äußerst
gefährlich eingestuft worden. Nirgendwo auf der Welt war je eine
Schrägseilbrücke mit einer Spannweite von mehr als tausendfünfhundert Metern
gebaut worden, über die auch eine Bahnlinie führte. Die Brücke von Messina
jedoch war [386] dreitausenddreihundertsechzig Meter lang und verfügte über eine
zweigleisige Trasse. Da es sich bei dem nordöstlichen Teil Siziliens und
Kalabrien um die Regionen mit dem höchsten Erdbebenrisiko im ganzen
Mittelmeerraum handelte, waren die Zweifel an dieser Megastruktur sicher
angebracht, doch an diesem Festtag wurden sie verdrängt.
Das
Personal der RAI und privater Radio- und
Fernsehsender aus dem In- und Ausland sowie eine Unzahl
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