Die rote Agenda
Ovations erhob und frenetisch applaudierte. Dann
setzte die Musik wieder ein und die Vorführung ging weiter.
Verena war
voller Sorge um Astoni. »Bist du sicher, dass du nicht gleich ins Hotel
zurückwillst?«, fragte sie ihn.
Er lächelte
und versuchte einen besänftigenden Ton anzuschlagen. »Mach dir keine Sorgen,
Verena, mir geht es gut. Nun wollen wir die Vorführung genießen und dann gut
essen. Du kannst ganz beruhigt sein, das war nur ein armer Irrer. Es ist nichts
passiert.«
Verena
wandte sich Ogden zu. »Wer kann das gewesen sein?«
»Einer, der
wusste, was er wollte«, antwortete er leise. »Er hatte einen Komplizen, der am
Notausgang des Palavela auf ihn gewartet hat.«
»Dann
wollte er Paolo wirklich etwas antun.«
»Ich
fürchte, ja. Die Pistole war echt. Er hat auch auf mich geschossen, doch er
hatte einen Schalldämpfer und hat nicht genau gezielt.«
»O mein
Gott!«, murmelte Verena.
»Gib acht,
dass Astoni dich nicht hört. Ich habe den Eindruck, er ist viel besorgter, als
er glauben machen will. Wir reden später darüber.«
Ogden
lehnte sich vor, um an Verena vorbeisehen und den Professor beobachten zu
können. Mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen verfolgte Astoni die
Darbietungen Korolenkos auf dem Eis. Und obwohl es ihm gelang, es sehr [71] gut
zu verbergen, war Ogden davon überzeugt, dass Astoni zu Tode erschrocken war
und den Grund für den Anschlag auf sein Leben kannte.
Als die
Vorführung zu Ende war, begab die Gruppe sich ins Cambio, das historische
Turiner Restaurant, einst der liebste Aufenthaltsort von Conte Camillo Benso di
Cavour, dem Staatsmann, der sich für die Einheit Italiens eingesetzt hatte.
Verena
kannte das Restaurant, weil sie es früher oft mit den Astonis besucht hatte,
doch sie genoss es jedes Mal wieder. Sie liebte diesen geschichtsträchtigen
Ort, seine mit karmesinrotem Samt dekorierten Fürstensäle, reich an funkelndem
Silber und barocken Spiegeln, überragt von Fresken und Intarsien aus
vergoldetem Holz. Das 1757 eingeweihte Cambio war der Treffpunkt der feinen
Gesellschaft Turins, wo seit mehr als einem Jahrhundert die großen Namen aus
Politik, Kultur und Adel verkehrten. Giacomo Casanova und Nietzsche hatten an
diesen Tischen geschrieben, und im Hauptsaal thronte noch immer jener Tisch, an
dem Cavour zu sitzen pflegte.
Ogden und
die anderen hatten kaum Platz genommen, als Korolenkos Trainer Sergej Tamarow
zu ihnen stieß. Der Neuankömmling und Ogden gaben sich die Hand und wechselten
einen einverständlichen Blick. Sie kannten sich seit Jahren, Sergej war zu
Zeiten des Kalten Kriegs KGB -Agent gewesen, und
zwar einer der besten. Als Olympiasieger im Eiskunstlauf hatte er dank seines
internationalen Ruhms jahrelang kreuz und quer durch die Welt reisen können,
ausgezeichnet getarnt, zuerst als Läufer, dann als Trainer. Später, nach dem
Fall der Berliner Mauer und dem Ende der [72] Sowjetunion, war er zumindest als
Spion in den Ruhestand getreten. Doch Ogden wusste, dass der neue russische
Geheimdienst FSB ihn in seinen Reihen behalten
hatte, und zwar in einer hohen Funktion. Natürlich gaben Ogden und Tamarow vor,
sich nicht zu kennen.
Eine
weitere Überraschung wartete auf Ogden: An einem Tisch im hinteren Teil des
Saals saß Alimante und speiste mit einem jungen Mann zu Abend. Auch er sah ihn
und nickte ihm diskret zu.
»Da ist Alimante«,
sagte Verena, die die gegenseitige Begrüßung beobachtet hatte.
»Ja.«
»Er ist ein
alter Freund von Paolo. Nicht wahr, Paolo?«
Der
Professor nickte. »Wir haben als junge Leute miteinander verkehrt und uns
später aus den Augen verloren. In dieser Stadt kennen sich mehr oder weniger
alle, zumindest in bestimmten Kreisen. Wie dem auch sei, Giorgio ist fast nie
in Turin.«
»Da kommt
er«, sagte Verena.
Alimante
trat an ihren Tisch und setzte sein gewohntes Lächeln für gesellschaftliche
Anlässe auf. »Was für eine außergewöhnliche Gesellschaft! Mein alter Freund
Paolo Astoni«, sagte er und streckte die Hand aus. Astoni ergriff sie und
machte alle miteinander bekannt. Als er bei Korolenko und Tamarow angelangt
war, sagte Alimante ein paar Worte auf Russisch, wechselte dann ins Englische
und erging sich in Komplimenten für den Eiskunstläufer und seinen Coach.
Schließlich lächelte er Ogden an.
»Wir kennen
uns schon. Was für eine Freude, Sie hier wiederzusehen! Und wo ist Stuart?«
[73] »Im
Hotel, nehme ich an.«
Alimante
wechselte einige höfliche Worte mit Verena, über
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